Islamischer Staat ausgerufen

Russische Truppen setzen ihre Angriffe in der Kaukasusrepublik Dagestan fort. Neupremier Putin will innerhalb von zwei Wochen Ordnung schaffen  ■   Von Klaus-Helge Donath

Moskau (taz) – Der Konflikt in der russischen Kaukasusrepublik Dagestan droht sich auszuweiten. Am Wochenende waren Freischärler, die der islamischen Sekte der Wahhabiten angehören, von ihren tschetschenischen Basislagern aus in Bergdörfer der Nachbarrepublik eingefallen. Seit Jahren unterhält der wahhabitische Warlord Chattab in den Bergen Tschetscheniens Ausbildungslager, die der russischen Armee und dem Geheimdienst bestens bekannt waren. Bereits im vergangenen Jahr beklagte der dagestanische Sicherheitschef, dass Agitatoren der militanten Sekte in den Bergdörfern ihr Unwesen treiben würden. Wie üblich reagierte Moskau nicht auf die Hilferufe aus dem Nordkaukasus.

So dürfte es für die Verantwortlichen in Moskau nicht überraschend gekommen sein, dass Chattab und Schamiil Bassajew, Volksheld des Tschetschenienkrieges, nach Dagestan vorstoßen würden. Zweitausend Freischärler fielen zunächst in die Verwaltungskreise Zumadinski und Botlichski ein, wo sie einige Dörfer unter ihre Kontrolle brachten und eine islamische Republik Dagestan ausriefen.

Gestern verbreitete die Schura, ein bisher offiziell nicht anerkannter „Rat der Muslime in Dagestan“, in der tschetschenischen Hauptstadt Grosni eine Unabhängigkeitserklärung. Die Deklaration ruft die Muslime in der Vielvölkerrepublik – 33 verschiedene Ethnien leben in Dagestan – dazu auf, den Rat „in seinem Kampf gegen die Ungläubigen und für die Befreiung des islamischen Dagestans von der Besatzung zu unterstützen“. Ein Polizeisprecherin in Dagestan teilte mit, die Regierung der Republik erkenne den Islamischen Rat und dessen Erklärung nicht an. Mehrere Anhänger des Rats, darunter auch der selbst ernannte Chef einer Schattenregierung, seien verhaftet worden. Der geschäftsführende russische Regierungschef Wladimir Putin räumte ein, in der Kaukasusrepublik gebe es „terroristische Akte“. Die russischen Truppen würden jedoch spätestens in 14 Tagen die Ordnung wiederherstellen.

Nach russischen Angaben sind ganze Dorfgemeinschaften aus den besetzten Gebieten auf der Flucht. Im Zusammenhang mit ethnischen Konflikten erweisen sich russische Informationen indes nicht immer als ganz korrekt.

Grundsätzlich spielt in Dagestan die ethnische Zugehörigkeit eine weitaus größere Rolle als das religiöse Bekenntnis zum Islam. Auf ungeteilten Zuspruch dürfte die Aktion der Freischärler daher nicht stoßen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gelang es den Machthabern in Machatschkala nur unter Mühen, die ethnische Gemengelage im Gleichgewicht zu halten. Die hohe Arbeitslosigkeit und der Krieg in Tschetschenien trieben die Republik mehrmals an den Rand eines gewaltsamen Konfliktes.

Die russischen Sicherheitsorgane meldeten zunächst, die besetzten Dörfer würden zurückerobert und die Lage stabilisiere sich. Vor Ort sieht es etwas anders aus. Unter der Überschrift „Armeeerfolge“ veröffentlichte die russische Zeitung Wremja einen erschrekkenden Bericht, der an die ersten Tage des russischen Tschetschenienfeldzuges im Dezember 1994 erinnert. Auch damals war die Armee völlig unvorbereitet, was Tausende Soldaten das Leben kostete. In Dagestan zerstörten jetzt russische Kampfhubschrauber versehentlich einen Jeep der Miliz. Vier Polizisten kamen ums Leben, siebzehn wurden verletzt. Bei einem weiteren Luftangriff beschoss die Luftwaffe das Dorf Omalo im Nachbarstaat Georgien. Präsident Eduard Schewardnadse wandte sich mit der Bitte um Aufklärung persönlich an Boris Jelzin. In dem 12.000-Seelen-Ort Botlich, auf den die Rebellen es abgesehen haben, entkam der Chef des russischen Generalstabes, Anatoli Kwaschin, nur knapp einem Anschlag. Kwaschin, der zur Inspektion nach Botlich geflogen war, wurde von feindlicher Artillerie unter Beschuss genommen. Und zwar bei der An- und Abreise.