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„Es ist unglaublich. Es ist dunkel.“

Als die Welt unterging, als es dunkel wurde und die Menschen sich an den Händen hielten, war das Fernsehen natürlich live dabei. Ein Protokoll    ■ Von Stefan Kuzmany

11.25 Uhr, BR: Auf dem Bildschirm erscheint Peter Stättmeyer, Leiter der Münchner Volkssternwarte. Er hat in den letzten Tagen offenbar schon so oft das Wort „Protuberanzen“ gesagt, dass sich ihm jetzt immer wieder die Zunge dazwischenschiebt: „Protubranzen“, sagt er. Und schon wieder: „Protubranzen.“

11.28 Uhr, ZDF: „Knoff Hoff“ lebt. Joachim Bublath, Populärwissenschaftler, ist für einen Tag der wichtigste Mann des Senders.

11.29 Uhr, ZDF: Live aus Stuttgart: Wolken.

11.30 Uhr, ZDF: Theo West versucht sich in Straßeninterviews. Eine Passantin fasst zusammen: „Die Welt geht unter, es wird dunkel, die Menschen halten sich an den Händen.“ West hält ihr weiter das Mikrofon unter die Nase, aber mehr hat sie nicht zu sagen.

11.32 Uhr, ZDF: Live aus dem Flugzeug: Wolken.

11.36 Uhr, ZDF: Wieder Bublath: „Wir zeigen Ihnen jetzt mal, wo der Schatten hinfällt.“ Nämlich in die „Totalitätszone“. Dr. Bublath sagt nie „Sonnenfinsternis“, sondern „Totalität“.

11.44 Uhr, RTL: „Nennen Sie uns ein Tier, das als besonders schlau gilt.“, sagt Werner Schulze-Erdel im „Familienduell“. Der Kandidaten sagt: „Biene.“

11.45 Uhr, Sat.1: Michael ist von Geburt an blind, hat aber trotzdem einen guten Job bekommen.

11.50 Uhr, BR: Die Archivaufnahme einer Totalität. „Für einen solchen Anblick reisen Menschen um die halbe Welt.“

11.54 Uhr, Pro7: Matlock seufzt.

11.58 Uhr, WDR: „Da sehen wir die Sonne, ist sie nicht wunderschön?“ – „Fast geisterhaft, ein wenig.“

12.00 Uhr, BR: Das Bayerische Fernsehen meldet Vollzug: „Jawoll, der Schatten rast auf München zu.“ Im Olympiastadion geißelt sich ein als Mönch verkleideter Schauspieler und „symbolisiert die westliche Kultur“.

12.02 Uhr, BR: „Da muss man sich natürlich schon fragen, was die Menschen da alles hineingeheimnist haben. Gerade wenn dann auch noch die Pest ausgebrochen ist. Dann sagen alle 'O Gott o Gott, wir sind schuld‘.

12.05 Uhr, BR: Reporter Christoph Bauer versucht über die eventhemmende Bewölkung hinwegzuparlieren. Neben ihm Herr Richter, zuständig für die Straßenbeleuchtung. „Herr Richter, was passiert mit den Ampeln?“ – „Die bleiben eingeschaltet.“

Sorry, kurze Pause: Totalität auch auf dem taz-Dachgarten. Redakteurin Häusler holt eine Schere, um aus Sofi-Brillen Sofi-Monokel zu basteln.

12.23 Uhr, ARD: „Nehmen Sie um Gottes willen Ihre Schutzbrille nicht ab!“

12.30 Uhr, ARD: Großdemo in Stuttgart: „Wol-ken weg! Wol-ken weg!“ Die Wolken bleiben.

12.31 Uhr, ARD: Emanuel Peter-Falvi, live aus Saarbrücken, mit dem ersten guten Gag des Tages: „Wenn sie noch Brillen brauchen, wir haben welche!“

12.33 Uhr, Sat.1: Lange Gesichter in Stuttgart: „Sie sind extra angereist, da ist die Enttäuschung natürlich groß?“ – „Ja, ich komme extra aus Heilbronn, da ist die Enttäuschung schon groß.“

12.34 Uhr, ZDF: Bublaths Co-Moderatorin Babette Einstmann: „Es ist unglaublich. Es ist dunkel. Da kann man wunderbar die Sonnenfinsternis sehen!“

12.35 Uhr, ARD: „Es ist gespenstisch. Eigentlich schlimmer als die Nacht.“

Auf fast allen Kanälen ist jetzt die verdunkelte Sonne zu wahlweise esoterischer oder klassischer Musik zu sehen. Auch auf H.O.T.

12.43 Uhr, ARD: Die Totalität ist auf dem Weg nach Österreich. Ein ORF-Reporter wird zugeschaltet: „Also, wie gesagt, ein Naturschauspiel. Ich höre gerade, die Venus ist auch zu sehen.“ Anschließend erläutert er die Auswirkungen auf die Fauna: „Man erwartet hier vielleicht auch, dass der Hahn zu krähen beginnt.“

12.46 Uhr, ZDF: Bublath geht in die Aufarbeitungsphase: „Jan Weyrauch, wie haben Sie denn die Totalität erlebt?“ – „Bei uns war bewölkt.“ –„Tja, tut uns leid.“ Bublath wirkt irgendwie postkoital erschlafft. „Und weil wir offenbar die einzigen sind, die diese Bilder haben, zeigen wir ihnen noch mal die Zusammenfassung.“

12.55 Uhr, ZDF: Bublath versucht sich tapfer an der dritten live kommentierten Zusammenfassung: „Stuttgart. Der Tag der schwarzen Sonne mal ganz anders: mit Regen.“

13.00 Uhr: Totale Bildschirmfinsternis.

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