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Unsterbliche Natürlichkeit

Vor 22 Jahren starb er an den Folgen von Fresssucht und Verstopfung. Er war und er ist der King des Rock 'n' Roll: Elvis Presley. Früher ein Idol, ja, ein Objekt sexueller Begierde, ein Freund, ein Kumpel – heute eine Denkmalfigur. Graceland, sein Haus in Memphis, gehört zu den beliebtesten Sehenswürdigkeiten der USA: ein Traum in schlechtem Geschmack. Kommenden Montag wird das Haus, in dem der King bis zu seinem Tod lebte, wieder von tausenden Pilgern zu einem Memorial umgewidmt. Eine Erinnerung  ■ on Jan Feddersen

Keine Ahnung, welcher Wochentag es war. Wir kamen an einem ganz normalen Werktag in Dun Laoghaire bei Dublin mit der Fähre an. Es war kein katholischer Feiertag, kein offizieller Trauertag. Und doch schien dieses Land – „seit Stunden, seit wir es wissen“, wie Jugendherbergsvorsteherin Patricia O'Reilly erklärte – in Kummer. Die Frau, ein mütterlicher Typ mit nachlässig gefärbtem kupferrotem Haar, war alt, schätzungweise vierzig. Was denn passiert sei, fragten wir. „Der King ist tot“, sagte sie. Der König? „Ich meine, Elvis ist gestorben. Gestern.“ 17. August 1977. Einen Tag zuvor war der amerikanische Sänger Elvis Presley tot in seinem Badezimmer aufgefunden worden, wie in der Irish Times immer wieder zu lesen stand. Elvis?

Elvis Presley. Ein Sänger, ein fetter Mann mit dicken Koteletten in irrsinnig weißen Bühnenkleidern. Auf späten Fotos trägt er meist eine überdimensionierte Sonnenbrille, deren Rand mit unecht scheinenden Edelsteinen besetzt schien. Peinlich. Er war damals ein Nichts gegen die Rolling Stones, gegen die Beatles. Ein Wrack von einem Mann, der mit der Folklorestimmung der siebziger Jahre nicht in Deckung zu bringen war. Und nun war er nicht einmal am Goldenen Schuss zu Grunde gegangen, sondern ganz unheroisch an Darmverschluss. Kein guter Abgang.

Die Autopsie ergab, dass Presley im Dickdarm zum Zeitpunkt seines Todes eine lehmartige Masse in sich trug. Stuhlgang war ihm damit nicht mehr möglich. Vermutlich, so glauben Gerichtsmediziner, hat Elvis in den letzten Stunden seines Lebens versucht, mit der Hand seinen schmerzenden, steinharten Bauch zu massieren, um sich Erleichterung zu verschaffen. Dabei könnte er eine Aorta abgeklemmt haben, was zum Herzstillstand führen musste. The King war erst 42.

Bei der Beerdigung sieht man acht Männer seinen Sarg tragen. Sie tragen schwer an ihrer Last. Der King wog am Ende viel zu viel, fast dreieinhalb Zentner. Seine schwarze Köchin erzählt, er habe ihr, verlassen von aller Welt, heimliche Heiratsanträge gemacht. Ihr traute er. Weil sie alles kochte, was er begehrte. Leckere, fette, nervenberuhigende Sachen. Dinge, die vor Fett troffen, gebratene Toastbrotscheiben mit Bananen auf Erdnussbutter; Nahrung, die viel Zucker enthielt, Puddingaufläufe mit viel Ei. Vor allem aber Burger, Fleischbälle, am liebsten mit Käsescheiben bedeckt.

Als seine Karriere ihren Zenit schon Jahre hinter sich gelassen hatte, ließ er sich von Memphis nach Denver mit dem eigenen Jet bringen – um sich dort 22 Sandwiches ans Flugzeug bringen zu lassen. „Fool's Gold“ hießen diese monströsen Teile, deren Herstellung – vorausgesetzt, die Gesundheitsfreunde in den USA haben weiteren Erfolg – vermutlich irgendwann verboten wird. Und Elvis Presley verschlang sie ohne Pause.

Satt schien er niemals zu werden, wie der britische TV-Journalist James Marsh für seinem Film „The Burger and The King“ herausfand: „Du frisst, bis du platzt.“ Immer stopfte Elvis Presley irgendetwas in sich hinein, neben Nahrungsmitteln vor allem Tabletten: gegen schlechte Laune, gegen Kopfschmerzen, vor allem aber gegen Völlegefühl. Und Abführmittel. Weigerte sich einer seiner Leute aus dem Tross, ihm Essen zu organisieren, wurde er gefeuert – der König, sonst eine eher umgängliche Natur, war unerbittlich, wenn es um die Befriedigung seiner wichtigsten Obsession ging.

Wahrscheinlich hätte Elvis Presley auch ohne Tabletten viel zuviel gegessen. Denn hungern wollte er schon seit Kindertagen in East Tupelo, US-Bundesstaat Mississippi, nicht mehr. Meist gab es nur Eichhörnchen, gesottene Schweinefüße und gedünstete Kohlblätter mit Maisbrot zu essen. Für einen Cheeseburger fehlte das Geld. Sein Vater Vernon, ein Landarbeiter; seine Mutter Gladys, Hausfrau und engste Vertraute des King. Ihr zu Ehren nahm er 1953 in den Sun Record Studios das Lied „My Happiness“ auf Schallplatte auf.

Elvis Aaron Presley, damals achtzehn Jahre, war ein schüchterner Junge, was er nach außen aber kaum zeigte. Er galt im schwarzen Wohnviertel, in dem seine Familie leben musste, weil das Geld für weiße Nachbarn nicht reichte, als Outlaw mit frecher Klappe. Ließ sich die Koteletten buschig wachsen, die Haare lang, kämmte sie mit Haarfett nach hinten, um sie oberhalb der Stirn wieder etwas zu lockern – dem Elvis-Look samt Tolle, der sich nur während seiner Ende der fünfziger Jahre in der Bundesrepublik abgeleisteten Militärzeit änderte, blieb er treu.

Sam Phillips, Inhaber und künstlerischer Motor der Schallplattenfirma Sun Records, erkannte im jungen Elvis Presley ein Juwel. Ein Weißer, der sang wie ein Schwarzer, wie ein Begehrender, ein Notleidender. Die Hüften bewegte wie kein Weißer, balzend, zuckend, rotierend, alles versprechend. Der Sex ausstrahlte, ohne mit der Wimper zu zucken, und doch von Erotik nichts zu wissen schien, ein Engel mit Lendenkraft, unschuldig und aggressiv und zart.

Presley war der Star des Rock 'n' Roll – mit den richtigen Feinden. „Durch den Rock 'n' Roll wird der weiße Mann auf das mindere Niveau des Negers erniedrigt. Er ist sexuell und unmoralisch und außerdem der beste Weg, beide Rassen zusammenzubringen“, wütete das White Citizen's Council in North Alabama, einer Gegend, in der weiße Verräter an der weißen Sache noch mehr gehasst wurden als schwarze Bürger selbst.

Elvis Presley kümmerten solche Anwürfe sichtlich wenig. Aufgewachsen mit meist schwarzen Kindern, war Apartheid für ihn eine skurrile Sache. Was er selbst am meisten verabscheute, war Langeweile, gegen die er nach eigenen Worten „einen heroischen Kampf“ aufnahm und ihn auch gewann. Der Mann wurde zur Lichtgestalt der Profanmusik der fünfziger Jahre, tonangebend bis Anfang der sechziger Jahre, ein Schallplattenmillionär, ein Filmstar, ein Held, den niemand beleidigen durfte, ohne sich als neidisch zu entlarven.

Anfang der sechziger Jahre wusste er, jedenfalls bei den jugendlichen Singlekäufern, kein Mittel gegen die modernen Briten wie die Beatles. Aber ein früh vergreister Großvater der Popmusik? Wollte er nicht werden. 1970 feierte Elvis Presley ein Comeback, live aus Las Vegas; aus dieser Zeit stammen auch die Songs „In The Ghetto“ und „Suspicious Mind“. Legendär auch seine TV-Show, am 14. Januar 1973 via Satellit in alle Welt übertragen: „Aloha from Hawaii“ – nicht gerade das Entertainment, das bei Kindern und Jugendlichen Gefallen fand – pompös, glamourös, also völlig uncool. Ein Mann, von dem glaubhaft überliefert ist, dass er jedes Essen grundsätzlich nachsalzte – ein quasi automatischer Handgriff gegen die Fadheit der ersten, der mittleren und letzten Jahre sowieso.

Aber bei jenen, die mit ihm älter geworden waren, den ersten Rock 'n' Rollern, die in ihm einen rauflustigen Bruder, einen guten Kameraden und verwegenen Liebhaber sahen, weckte er die alte Leidenschaft. Was sie an ihm liebten, war ja vermutlich, dass Elvis Presley eigentlich immer der gleiche Outlaw aus Tupelo geblieben war. Der nie vergessen hatte, wie demütigend eine Armeleutemahlzeit ist, wenn Klassenkameraden leckere Fleischklöße sich leisten können. Der sich zeitlebens weigerte, mit Messer und Gabel zu essen und die Wahl seiner Mädchen davon abhängig machte, ob sie ihm wie seine Mutter das Fleisch mundgerecht schnitten. Ein Mann, der trotz angehäufter Millionen keinen Bildungsroman von gewöhnlichen Aufsteigern in sich zu tragen schien, etwa in dem Sinne: Wenn ich einmal reich bin, werde ich wie die Reichen. Im Gegenteil dokumentierte Presleys Leben, dass Arme, wenn sie zu Zaster kommen, die Befriedigung der Lüste der Armen für ausreichend halten, um sich wohl zu fühlen. Um einen Vergleich aus heutiger Zeit zu nehmen: Presley änderte nicht wie ein Marius Müller-Westernhagen mit dem Aufstieg die textile Einfassung – also kein Wechsel vom Rockeroutfit zum Armani-Kleiderständer.

In diesem Sinne ist Presley immer ein König jener geblieben, denen es wie ihm nicht gelingen wollte und konnte, die eigenen, sozusagen proletarischen Wurzeln abzuschneiden – trotz all der Tantiemen, die der King freilich nicht nutzte, um sich an den bürgerlichen Höfen anzupassen. Kein Wunder, dass Irland in Trauer fiel, als die Todesnachricht kam: Dort glaubt man insgeheim, in den Augen von Engländern nicht bestehen zu können, weil man zu schlicht sei, nicht smart, sondern grob, nicht versnobbt, sondern krass.

Presley hatte eine Vorliebe für Dinge, die glänzten – Limousinen mit Perlmuttdächern, Schuhe mit geölten Fellbeschlägen, ein Haus schließlich namens Graceland, das nach vorne von griechischen Säulen gestützt wird und innen drastisch, bunt und neureich wirkt. Der King ist somit bis zu seinem qualvollen Tod der natürlichste Star geblieben, einer, der seine Herkunft nie ernsthaft verleugnen konnte. Ein tapferer Mann, unglücklich, weil er nie satt wurde. Die Pilger, die Graceland besuchen, wissen genau, was sie verehren.

Jan Feddersen, 42, Mitglied der taz.mag-Brigade, mag von Elvis Presley am liebsten „In The Ghetto“

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