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Knackpunkt Karow

Die Schienenanbindung Berlins nach Norden soll in den kommenden Jahren ausgebaut werden  ■   Von Ole Schulz

Als am 8. August 1924 der erste elektrische S-Bahn-Zug mit Fahrgästen vom Stettiner Vorortbahnhof bis nach Bernau im Berliner Nordosten fuhr, brach eine neue Ära im Nahverkehr an: Die Züge waren nicht nur schneller und verbrauchten weniger Energie als ihre dampfbetriebenen Vorgänger, sondern waren auch ästhetisch eine Neuheit: Sie hätten eine „gefälligere Form“ und die Wagen einen eigentümlich „hellen Farbanstrich“, was möglich war, weil „die Verschmutzung durch den Rauch“ der Dampfloks wegfiel, schrieb das Berliner Stadtblatt damals. Der grüne Anstrich, mäkelte dagegen eine andere Zeitung, lasse die Wagen „etwas unfreundlich“ aussehen. Sicher ist, dass die Bauart „Bernau“ der Kritik der nörgelnden Berliner nicht lange standhielt: Vier Jahre später wurden die Waggons im heute noch gültigen Rot-Ockergelb gestrichen.

Wenn schon nicht bei der sensiblen Frage der Farbgebung, so war der Pionierzug auf der Stettiner Bahn nach Bernau doch in anderer Hinsicht wegweisend: „Die zweite Klasse wird aus den Zügen gänzlich ausgeschaltet, so dass es auf den Nordstrecken nur noch eine Einheitsklasse gibt“, vermeldete das Berliner Stadtblatt diesen Schritt zur Demokratisierung des öffentlichen Nahverkehrs lapidar – die Zweite-Klasse-Züge, die zu den Villenkolonien Wannsees und Zehlendorfs im Süden verkehrten, wurden dagegen lange noch „Bankierszüge“ genannt. Endgültig und berlinweit abgeschafft wurden die Zweite-Klasse-Abteile schließlich erst nach 1945; übrig blieben die schnöden Holzbänke der dritten Klasse, wie wir sie heute noch kennen.

75 Jahre, nachdem auf der ehemaligen Stettiner Bahn die Elektrifizierung der S-Bahn eingeleitet wurde, ist die Strecke erneut im Gespräch: Im Rahmen des Pilzkonzeptes (siehe Kasten) soll die Stettiner Bahn nun bald wieder ihre alte Aufgabe als Ostsee- und Skandinavienverbindung wahrnehmen. Das Planfestellungsverfahren läuft aber noch, und die Einwendungen von Anwohnern werden derzeit bearbeitet. „Vor Mitte 2000 werden wir nicht mit den Bauarbeiten beginnen können“, sagt Gerty Lücke, Sprecherin des DB-Projektes Knoten. Dann soll der 1945 auf ein Gleis reduzierte, sieben Kilometer lange Abschnitt der Fernbahn zwischen dem neuen Umsteigebahnhof Gesundbrunnen und dem Karower Kreuz zweigleisig ausgebaut werden. Wenn alles gut geht, werden ab 2002 Fernzüge mit bis zu 160 Stundenkilometern vom Bahnhof Gesundbrunnen bis nach Stralsund, Stettin oder Schweden fahren.

Der Ausbau des Karower Kreuzes ist dabei einer der Knackpunkte des Projektes. Vor allem die Nahverkehrsanbindungen an das Karower Kreuz seien unzureichend, kritisieren die Bündnisgrünen. Die Regionalbahn des Berliner Außenringes kreuzt die Trasse der Stettiner Bahn zwar schon, aber ein Umsteigebahnhof ist noch nicht vorhanden; die S-Bahn müsste zudem von Wartenberg verlängert werden, um über das Karower Kreuz weiter nach Birkenwerder zu führen. Davon würden nicht nur die 13.000 Karower und 9.000 Bucholzer profitieren, die sich in den Neubausiedlungen der Gegend niedergelassen haben, sondern auch die Bewohner Hohenschönhausens, Marzahns und Lichtenbergs. „Die meisten fahren immer noch auf umständlichen tangentialen und radialen Routen mit dem Auto in die Innenstadt“, sagt Claudia Hämmerling von den Bündnisgrünen. Auch für die Strecke von Pankow nach Hohenschönhausen brauche man im PkW wegen regelmäßiger Staus tagsüber mindestens eine Dreiviertelstunde – durch den Anschluss der S- und Regionalbahn an das Karower Kreuz würde sich die prekäre Situation auf den Straßen im Nordosten Berlins entschärfen lassen.

Im Flächennutzungsplan ist das Karower Kreuz auch als ein Umsteigebahnhof für die S- und Regionalbahn ausgewiesen, aber ob und wann es zu einem solchen Ausbau kommt, ist angesichts der Haushaltslage des Landes Berlin bislang noch völlig offen, zumal „die Bahn AG nur das baut, was der Senat bestellt hat“, so Hämmerling. Zur Zeit prüft der Senat noch die verschiedenen Möglichkeiten. Dass dabei die große Gefahr besteht, „dass die Zukunft verbaut wird“, befürchtet auch Michael Cramer, Verkehrsexperte der Berliner Bündnisgrünen. Denn nach derzeitigen Planungsstand bliebe kein Platz mehr für die Bahnsteige der S- und Regionalbahn. „Bisher gingen die Senatsplaner nämlich davon aus, dass die S-Bahn nicht in direkter paralleler Lage zum Eisenbahn-Außenring geführt wird, weshalb sie beim Ausbau der Stettiner Bahn die S-Bahn-Verlängerung nicht berücksichtigt haben“, so Cramer. Eine traditionelle Bahnstrecke, die am Karower Kreuz startet, soll immerhin bald fertig sein: Am 25. September wird die privatisierte Heidekrautbahn ihren Betrieb zwischen Karow und Groß Schönebeck wieder aufnehmen.

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