piwik no script img

Traum vom normalen Leben

■ Gemeinnütziger Verein lud zum 9. Mal Kinder aus der Umgebung von Tschernobyl zum Erholungsurlaub nach Bremen: „Hilfsaktionen sind jetzt wichtiger denn je“

Die Gäste im Haus Hügel in Bremen-Schönebeck blicken sich überrascht um: Ohne Vorankündigung werden die Lichter des Aufenthaltsraumes gedimmt. „Die Kinder haben irgendetwas vorbereitet“, flüstert man sich zu. Erwartungsvolles Schweigen. Mit einem Male erklingt Musik, und drei Mädchen zwischen zehn und 14 Jahren springen in die Raummitte. In liebevoller Choreographie beginnen sie zu tanzen – erst zaghaft, dann immer überzeugter. Tanzen. Sich unbeschwert im Takt der Musik wiegen, ohne nachdenken zu müssen. Wie in einem Traum.

Wie ein Traum mögen den Heranwachsenden auch die vergangenen drei Wochen insgesamt vorgekommen sein. Während dieser Zeitspanne nämlich waren sie zusammen mit zwölf Gleichaltrigen und zwei Betreuerinnen zu Besuch in Bremen. Ursprünglich kommt die Gruppe aus dem belorussischen Drushnyj – einer tristen Plattenbausiedlung, die noch immer an den Folgen der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl leidet. Ein Erholungs-Urlaub in Deutschland ist für die weißrussischen Gäste eine Zeit des Vergessens. Nur selten ist es ihnen zu Hause möglich, völlig angstbefreit durch den Wald zu toben. Ebenso rar sind die Momente, da sie gedankenlos essen können, was immer das Herz begehrt. Stattdessen ist da immer diese Furcht vor der unsichtbaren Strahlung, diese Panik vor der unbegreiflichen Krankheit. Wenigstens drei Wochen all dem den Rücken zuzukehren – das ist wahrlich schon ein kleiner Traum.

Möglich wurde die Bremen-Reise durch den gemeinnützigen Verein „Kinder von Tschernobyl“ in Neuenkirchen. Bereits zum neunten Mal organisierte der Zusammenschluss einen Sommeraufenthalt für weißrussische Kinder. Finanziellen Rückhalt bekommt er ausschlielich von privaten Spendern. Dass das Hilfsprogramm unter dieser Voraussetzung seit 1990 Jahr für Jahr fast lückenlos wiederholt werden konnte, grenzt daher fast an ein Wunder. Auch Mitorganisator Klaus-Peter Radeke gerät mitunter ins Staunen, wenn er die positive Bilanz seines Vereines Revue passieren lässt. „Das Ganze funktioniert wohl nur dank eines nahezu grenzenlosen Optimismus' bei allen Beteiligten“, mutmaßt er.

Die Hoffnung, etwas verändern zu können, hält er angesichts der Lebensumstände in Weißrussland für ganz natürlich. „Irgendwann haben meine Kollegen und ich begriffen, dass es um Menschen geht, die in der Umgebung von Tschernobyl Unglaubliches auszustehen haben.“ Da sei es nur naheliegend, den Bedürftigen auch direkt helfen zu wollen. Gerade Drushnyj, der Heimatort der Kindergruppe, sei „ein Trauerspiel“, berichtet Radeke. Direkt nach der Reaktorkatastrophe im Jahre 1986 wurden dorthin Tausende von Menschen umgesiedelt, die zuvor in der unmittelbaren Umgebung von Tschernobyl gelebt hatten. Die Siedlung hatte damals praktisch keine Infrastruktur.

Gleichzeitig waren die gesundheitlichen und sozialen Lebensumstände schlichtweg desaströs. Inzwischen hat sich zwar in Drushnyj rein optisch etwas getan – es gibt Bäumchen und vereinzelte Spielplätze – dennoch sind mindestens 25 Prozent des Wohngebietes langfristig verseucht. Die Folgen: Fast jedes der dort heranwachsenden Kinder trägt eine Krankheit in sich. Blutveränderungen, Schilddrüsenerkrankungen oder Krebs werden immer häufiger; eine generelle Schwächung des Immunsystems gehört schon zum Regelfall. Ein ganzes Netzwerk von Initiativen und Vereinen konnte mittlerweile wenigstens eine grundlegende ärztliche Versorgung für Weißrussland gewährleisten. Dennoch seien „Hilfsaktionen gerade jetzt wichtiger denn je“, mahnt Klaus-Peter Radeke.

Die Unterstützung der besonders geschädigten Menschen ist für ihn eine Langzeitaufgabe. Daher begibt er sich schon jetzt – kurz nachdem sich die letzte Kindergruppe wieder auf den Weg in die Heimat gemacht hat – auf die Suche nach Spendern für den nächsten Aufenthalt. Missmutig stimmt Radeke nur, dass das Schicksal gerade der weißrussischen Bevölkerung weltweit immer mehr in Vergessenheit gerät. „Leider ist die Halbwertzeit des menschlichen Gehirns wesentlich kürzer als die der radioaktiven Isotope“, seufzt er. An der Tatsache könne man nur wenig ändern.

tin

Kontakt über: Klaus-Peter Radeke, Tel.:  68 05 73; Spenden: Kontonummer 19 18 17, Kreissparkasse Osterholz, BLZ 291 523 00

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen