: Die Konflikte ruhen
■ Die Auseinandersetzungen zwischen Türken und Deutschen sind aufgrund der Erdbebenkatastrophe in den Hintergrund getreten
Karina Decrusch steht wie jeden Freitag mit ihrem Stand am Maybachufer in Kreuzberg und verkauft Stoffe und Kurzwaren. Doch anders als sonst hat sie um zwölf Uhr noch keine Kunden. Der türkische Markt ist auch vier Tage nach dem katastrophalen Erdbeben in der Türkei ungewohnt leer.
„Ich bin erschüttert über das Ausmaß des Erdbebens“, sagt die deutsche Markthändlerin und hat eine Gänsehaut auf ihren Armen. Decrusch hat sich bereits am Dienstag bei ihren türkischen Kollegen an den Nachbarständen erkundigt, ob bei ihren Bekannten und Verwandten in der Türkei alles in Ordnung sei. Sie zeigt auf einen Stand schräg gegenüber. „Der Mann da drüben hat am Dienstag schon vom Tod seiner Tante erfahren“, flüstert sie mit mitleidiger Miene. Sonst sei bei den türkischen Kollegen ringsherum aber alles in Ordnung. Wie viele andere hat Decrusch bereits gespendet. „Es waren zwar nur 50 Mark, doch wenn das alle anderen auch tun, kommt ganz schön was zusammen“, sagt sie.
Einige Meter weiter verteilt Ismet Balkan Flugblätter, auf denen in deutscher und türkischer Sprache zu Spenden für die Erdbebenopfer aufgerufen wird. Balkan hat keine Mühe, seine Flugblätter loszuwerden. Fast jeder der Vorbeigehenden nimmt eines davon. Die Konten der türkischen Bank Is Bankasi und des Deutschen Roten Kreuzes sind auf den Flugblättern aufgeführt.
„Ich habe das Gefühl, dass diese Katastrophe Deutsche und Türken weiter zusammengeschweißt hat“, meint Balkan. „Die Deutschen zeigen große Hilfsbereitschaft und Anteilnahme. Mir scheint, als ob bislang bestehende Konflikte zwischen Türken und Deutschen plötzlich ein Stück weit aufgehoben wären.“
Am Obst- und Gemüsestand nebenan spekulieren zwei Männer über die mögliche Zahl der Todesopfer. Von 40.000 Toten will der eine gehört haben. „Wenn es nur 40.000 sind, haben wir noch Glück gehabt“, sagt der Standinhaber Mustafa Can, der kommenden Dienstag in die Türkei fliegen will, um seiner Familie vor Ort zu helfen. „Wir haben zum Glück kein Menschenleben verloren, aber das Haus meiner Verwandten ist dem Erdboden gleich“, sagt Can. Auch er ist positiv erstaunt darüber, wie anteilnehmend deutsche Nachbarn und Kollegen auf die Katastrophe in der Heimat reagieren: „Doch es kommt darauf an, auch in zwei oder drei Monaten noch mit der Hilfe anderer Länder rechnen zu können“, meint er relativierend.
Zwei ältere türkische Frauen schalten sich ins Gespräch ein. Eine erzählt lobend von ihrem deutschen Arzt, der unverzüglich in die Türkei geflogen sei, um zu helfen. Die andere von ihrem deutschen Vermieter, der gleich am Dienstag vorbeigekommen sei, um ihr Geld für ihre Angehörigen in der Türkei zu übergeben. Die Frauen scheinen stolz auf ihre deutschen Bekannten zu sein.
Der Kräuterverkäufer ein paar Stände weiter muss heute auf die Hilfe seines türkischen Schwiegersohnes verzichten. Er ist in die Türkei geflogen. Stattdessen preist heute sein zwölfjähriger Enkel die Ware an. „Spenden? Ach ja! Natürlich werde ich Geld spenden, wenn es nötig ist“, meint der Kräuterverkäufer. „Wir Deutschen helfen doch immer.“ Songül Çetinkaya
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