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Deutschland trauert mit den Türken

In der Bundesrepublik gibt es eine große Anteilnahme an der Erdbebentragödie in der Türkei. Berlin flaggt halbmast, und die gesamte Fußball-Bundesliga legt eine Gedenkminute für die Opfer ein    ■ Von Eberhard Seidel

Berlin (taz) – „In der Türkei sollten sich einige Leute schämen, die bislang behaupteten, Europa würde sie links liegen lassen. Die Europäer sind die einzigen, die in diesen Tagen im Erdbebengebiet Menschenleben retten.“ Ein unpatriotischer Satz angesichts des Chaos bei den Rettungsarbeiten, blasphemisch und unpassend wegen der vielen Toten – das meinte zumindest ein türkisches Boulevardblatt und brach das Interview mit dem grünen Europaabgeordneten Ozan Ceyhun ab.

Aber für diesen geht es bei der Tragödie in der Türkei um mehr als nur um eine Naturkatastrophe. Die spontane Hilfsbereitschaft in Europa, allen voran in Deutschland, zeige, wie nahe die Türkei den Europäern ist, wie stark sie mit den Menschen mitempfinden. Selbst Griechenland, „Erbfeind“ der Türkei, fliegt seit Tagen Hilfsgüter in die Krisenregion. Nicht zuletzt deshalb ist Ceyhun überzeugt: „Die ganze Debatte, ob die Türkei ein Teil Europas ist, kann man sich sparen. Sie wird in diesen Tagen beantwortet.“

Viele Bundesbürger hätten das Gefühl, so der Eindruck des Europaabgeordneten, das Erdbeben habe nicht nur weit unten in der Türkei, sondern in einer Region stattgefunden, die ein Teil Deutschlands ist. Das erkläre die ehrliche Anteilnahme vieler Bundesbürger. Der Berliner Senat zum Beispiel wird für den Tag, an dem in der Türkei ein Staatsakt für die Opfer stattfindet, Trauerbeflaggung anordnen. „Das ist das Mindeste, was wir tun können“, kommentiert ein Senatssprecher die ungewöhnliche Initiative.

Auch der Deutsche Fußball-Bund sieht sich durch die Katastrophe herausgefordert. Er veranlasste, am Wochenende bei allen Spielen der ersten und zweiten Bundesliga eine Gedenkminute für die Opfer des Erdbebens einzulegen. „Viele Menschen, die Verwandte und Freunde verloren haben, sind bei uns als Fans im Stadion. Auch ihnen gilt unser Mitgefühl“, erklärten DFB-Präsident Egidius Braun und Ligapräsident Gerhard Mayer-Vorfelder in einem Rundschreiben an die Profivereine. Und der FC Bayern München wird in der Winterpause ein Benefizspiel gegen Besiktas Istanbul bestreiten. Für Wolfgang Novak, Sprecher des DFB, ist das alles nichts Außergewöhnliches: „In den letzten Jahren hat sich zwischen Türken und Deutschen eine starke Bindung entwickelt, der wir mit diesem Akt Rechnung tragen.“ Schon einmal, 1993, legte der DFB zugunsten der Türken in Deutschland eine Gedenkminute ein – nach dem Brandmord von Solingen.

Auch Hilfsorganisationen wie das Deutsche Rote Kreuz (DRK) registrieren eine erhöhte Spendenbereitschaft. Verwundert sind die Spendenprofis allerdings nicht. „Je näher eine Katastrophe, desto höher das Spendenaufkommen. Und die Türkei ist den Deutschen aufgrund von Freundschaften, Arbeitskollegen und Urlaubserfahrungen sehr, sehr nahe“, so der Eindruck der DRK-Sprecherin.

Ähnliche Erfahrungen macht Kenan Kolat, Geschäftsführer des Türkischen Bundes von Berlin/Brandenburg: „Mich erreichen viele Anrufe und Postkarten mit Beileidsbekundungen.“ Wie weit die Solidarität reicht, wird sich schon bald zeigen. Gestern schickte Kolat einen Brief an das Auswärtige Amt, in dem er Außenminister Joschka Fischer bittet, die Botschaften im Krisengebiet anzuweisen, Erdbebenopfern unbürokratisch Touristenvisen für drei Monate und länger zu erteilen. Allein für Berlin geht Kolat von über 600 Familien aus, die Verwandte und Bekannte vorübergehend nach Deutschland holen wollen. Wie weit Fischers Engagement in dieser Frage gehen wird, ist noch unklar. Zumindest hat er bereits die Schirmherrschaft für ein Solidaritätskonzert des türkischen Popstars Tarkan übernommen, das am 26. September in Oberhausen stattfinden und von dem grünen Bundestagsabgeordneten Cem Özdemir organisiert wird.

Eine weitere Möglichkeit, Erdbebenopfern in Deutschland zu helfen, besteht für Kolat mit Paragraph 32 des Ausländergesetzes. Er gestattet den Landesbehörden, Ausländern aus humanitären Gründen eine vorübergehende Aufenthaltsbefugnis zu erteilen. Kolat fordert den Berliner Senat dazu auf, diese Möglichkeit so großzügig wie möglich zu nutzen. Egal wie die Entscheidung ausgehen wird, das Erdbeben hat die Türkei und Deutschland schon heute näher aneinander gerückt. Und damit diese Annäherung auch eine europäische Perspektive erhält, bat Ozan Ceyhun gestern den Präsidenten der EU-Kommission, Roman Prodi, möglichst schnell Vorschläge für den Aufbau der zerstörten Region auszuarbeiten.

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