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„Haltet die Schnauze und tretet zurück“

Eine Woche nach dem Beben wächst in der Türkei die Wut über Versäumnisse der Regierung. Die setzt drei Gouverneure ab, und Premier Ecevit kündigt strengere Bauverordnungen an  ■   Aus Istanbul Jürgen Gottschlich

„Tretet zurück“, „Halt die Schnauze.“ Wenn in diesen Tagen in der Türkei jemand zur Regierung befragt wird, hagelt es Schimpfwörter. Der Nachrichtensender NTV hat eine Leitung „Die Stimme des Volkes“ eingerichtet, wo sich die gesamte Verbitterung der Bevölkerung entlädt. „Der Staat hat uns allein gelassen, es ist eine Schande“, ist das Empfinden des allergrößten Teils der Leute, die sich äußern. Tief verbittert sagt ein älterer Mann vor laufender Kamera in Izmit: „Sie konnten noch nicht einmal unsere Toten bergen. Stattdessen betteln sie bei der UNO um Leichensäcke.“

Vor allem der Gesundheitsminister von der rechtsnationalistichen MHP, der Arzt Osman Durmus, wird massiv kritisiert. In einer Mischung aus Ignoranz und Überheblichkeit hatte er griechische Blutspenden, Hilfe aus Armenien und den USA zurückgewiesen und behauptet, die Verwundeten würden lieber von türkischen als ausländischen Ärzten behandelt. Bereits am Montag hatte die Tageszeitung Radikal daraufhin seinen Rücktritt gefordert, und das Massenblatt Hürriyet titelte gestern: „Hau ab, halt die Schnauze“.

Zu der unmittelbaren Erfahrung im Erdbebengebiet – gestern versetzten zwei Erdstöße in der Umgebung von Ankara die Einwohner in Panik –, kommen die täglichen Skandale, die die Zeitungen publik machen. Mal werden Röntgengeräte oder andere medizinische Geräte beim Zoll festgehalten, ein anderes Mal Chemikalien für die Löscharbeiten an der Ölraffinerie in Izmit nicht durchgelassen. Radikal berichtete gestern von einem griechischen Reeder, der unentgeltlich ein Kühlschiff nach Yalova schicken wollte, damit dort Leichen bis zur Bestattung aufbewahrt werden können. Das Schiff wurde tagelang festgehalten und musste umkehren.

Den meisten Leuten reicht es jetzt. „Das gesamte System hat versagt“, bekannte der Tourismusminister Erkan Mumcu, und der Chefredakteur von Hürriyet stellt kategorisch fest: „Mit dem Erdbeben hat in der Türkei eine neue Zeitrechnung begonnen. Nichts wird mehr so sein wie vorher.“ Auch Ministerpräsident Bülent Ecevit räumte gestern Fehler der Behörden ein und gestand Verzögerungen bei den Bergungsarbeiten ein. Jedoch habe er nicht die Absicht zurückzutreten.

Tatsächlich ist eine Woche nach dem Beben klar, dass die Katastrophe selbst die schlimmsten Befürchtungen übertroffen hat. Seit am Wochenanfang die Bergungsarbeiten fast überall eingestellt wurden, braucht man nur noch die bereits tot Geborgenen und die noch Vermissten zusammenzuzählen. Selbst nach offiziellen Angaben kommt man auf über 46.000 Tote. Hinzu kommt der materielle Verlust. Mehr als 120.000 Häuser sind zerstört, knapp 300.000 Menschen obdachlos.

Der innenpolitische Streit um das Versagen der staatlichen Institutionen hat in einem ersten Schritt dazu geführt, dass die Gouverneure der drei am stärksten betroffenen Provinzen Kocaeli, Yalova und Sakarya abgesetzt und die Leitung der staatlichen Maßnahmen jeweils kommissarisch einem Minister übertragen wurden. Warum die fast 800.000 Mann starke Armee nur zögerlich zum Einsatz kam, ist immer noch ungeklärt. Es scheint, dass Ministerpräsident Ecevit die Forderung des Generalstabs nach Ausrufung des Notstands oder gar des Kriegsrechts abgelehnt hat, woraufhin die Armee den größten Teil der Soldaten in den Kasernen ließ.

Auf die schweren Vorwürfe wegen Pfusch am Bau und mangelnder Bauaufsicht hat das Kabinett am Wochenanfang reagiert und beschlossen, für die kommenden fünf Monate Baugenehmigungen in den Erdbebengebieten nur noch zentral über Ankara zu erteilen.

Gebaut werden in den nächsten Wochen sowieso vorwiegend Notunterkünfte. 50.000 Fertigbauhäuser sollen bis Ende November aufgestellt werden. Als Sofortmaßnahme will man eine einmalige Erbebenabgabe erheben, diskutiert wird auch eine regelrechte Erdbeben-Sondersteuer oder die Ausgabe von Erdbeben-Bons in Form von Staatsanleihen.

Schon jetzt ist aber klar, dass der Wiederaufbau der industriellen Kernregion der Türkei aus eigener Kraft nicht zu schaffen ist. Bislang hat die Weltbank eine Soforthilfe in Höhe von 3 Milliarden Dollar in Aussicht gestellt. Was darüber hinaus benötigt wird, muss entweder bilateral, aus befreundeten Ländern, oder von der EU und dem Internationalen Währungsfonds (IMF) kommen.

Seit drei Monaten verhandelt die türkische Regierung mit dem IMF über ein neues Stand-by-Abkommen. Doch statt frisches Geld zur Ankurbelung der türkischen Wirtschaft braucht Ministerpräsident Ecevit nun dringend Mittel für den Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur. Außer Weltbank und IMF wird sich auch die EU um die Türkei kümmern müssen. Wenn die Welle der Hilfsbereitschaft abebbt, müssen Entwicklungsprogramme aufgelegt werden, die es der Türkei ermöglichen, ihr industrielles Kerngebiet wiederaufzubauen. Immerhin hatte das Beben ein Gutes: die Hilfsbereitschaft in Griechenland hat dazu geführt, dass sich das Verhältnis zwischen beiden Staaten schlagartig verbessert hat.

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