: Tantadrujs Land
■ In der verrückten Welt der Normalen. Eine Zugfahrt von den Alpen zum slowenischen Karst auf einer der schönsten Eisenbahnrouten Europas. Umsteigen und lange Zwischenaufenthalte im Nirgendwo unscheinbarer, unbekannter Orte
Geduld, beim Eisenbahnfahren braucht man Geduld, jedenfalls in Slowenien. Die Planer des Fahrplans der Slovenske Želežnice ermuntern zum Umsteigen mit langen Zwischenaufenthalten in Orten, die höchstens mit einer Zeile in den Reiseführern genannt werden. Jesenice, zum Beispiel. Von München kommend, ist dies der erste Ort nach der österreichischen Grenze. Von hier führt die schönste Eisenbahnstrecke Europas nach Nova Gorica und Sežana in die Julischen Alpen, durch einen langen Tunnel ins Soca-Tal und von dort auf den Karst hinter Triest: Alpen – Mediterran – Karst, drei Landschaften, viele Geschichten.
Jesenice. Flanieren auf dem Industrieschorf im Savetal, der Ort gleicht einem lang ausgestreckten Reptil mit toten Fabriken, verkrauteten Lagerplätzen, Schrott und Rost, Rauch und Lärm, mit Wohnhaustürmen, deren Putz abbröckelt. Mit einem verkommenen Partisanendenkmal. Vergangenheit, vergessen. Nicht das Glas mit einer frischen roten Nelke davor.
Der Zug steht schon da. Schloss Jesenice bleibt hinter mir, ebenso der regenvolle Trog des Save-Tals. Hinunter in Tantadrujs Land. Ein mächtiger Tunnel wurde druch die Julischen Alpen getrieben, zwischen dem Tal der Sava Bohinjka (Wocheiner Save) und der Baca, die gemeinsam mit der Idrijca bei Tolmin in die aufgestaute Soca mündet. Ein Wildwasser beißt sich durch den Kalk, steile Waldhänge, darüber die Ödnis der Steinberge. Weltabgeschieden. Doch die kleinen Friedhöfe erzählen die Geschichte, wie die moderne Welt in diese Gegend gekommen ist. Soldatengräber, hier fielen Unzählige.
Ein Land leiser Geschichten. Eine davon, das Märchen vom Narren Tantadruj, erzählt Ciril Kosmac in einer hintergründigen Parabel. „Tantadruj war ein winzig kleines Wesen, und auch Verstand hatte er nur einen winzigen, seine Seele aber war geräumig genug, um darin seinen großen und einzigen Wunsch zu bergen: zu sterben.“ Sterben will er nicht wegen eines besseren Jenseits, sondern weil er einmal gehört hat, er werde erst mit seinem Tod glücklich sein – der Sterbenswunsch als fixe Idee der Glückssuche. An der Ausführung hindern ihn der Dorfgendarm und der Pfarrer. Noch andere Lesarten läßt Kosmac' berührende Geschichte zu. Die Freunde des schellenbehangenen Narren sind der slowenische Maurer Luka Bogiorno-Boserna, der friulanische Knecht Rausepatacis und der deutschsprachige Mattl Gleichenstab. Einer verrückter als der andere, verstehen sie sich prächtig. Nicht im Traum fällt ihnen ein, dass unterschiedliche Rasse, Sprache und Nation ihre Freundschaft beeinträchtigen könnten.
Die Verrückten verstehen sich prächtig
So verkörpern sie ein idealtypisches Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen in dieser Region, von Kosmac in die Welt der Verrückten angesiedelt, weil die verrückte Welt der Normalen doch ganz anders funktioniert – das Museum des Ersten Weltkriegs in Kobarid dokumentiert eindrucksvoll die Pathologie der Normalität. Im Umfeld der Bahnlinie durch das Isonzotal wurden die blutigsten Schlächtereien des Ersten Weltkriegs ausgetragen, zahlreiche Orte wurden völlig zerstört, der Granatregen trug ganze Bergkuppen ab: über eine Million Tote in zwölf Isonzoschlachten.
Schnelle Wechsel, das Soca-Tal weitet sich, Nova Gorica. Der grüne Maschenzaun hinter dem Bahnhof ist die Grenze zwischen Slowenien und Italien. Nach dem Krieg war dieser Grenzstreifen sofort vermint und mit Wachtürmen versehen, bis in die fünfziger Jahre war die Grenze zwischen dem kapitalistischen Italien und dem kommunistischen Jugoslawien eine der heikelsten Europas. Nach Nova Gorica Wein und Pinien, üppiges Land, rote Häuser, Rundziegeldächer, Reste einer gewaltsam vertriebenen Italianità, wie auch die andere Seite nach dem Zweiten Weltkrieg das Slowenische gewaltsam auszumerzen versuchte – in der Trottelsprache der Politik hieß das: population transfer. Aber jahrhundertealtes Land lässt sich nicht einfach korrigieren.
Nach Branik ändert sich die Landschaft: Wälder, Weiden, Stein. Und der Burghügel von Štanjel. Durch das offene Zugfenster duften wilde Kräuter ins Abteil, Thymian, Salbei, Rosmarin, und die Luft, vom Regen gesäubert, ist von einem klaren Licht durchdrungen, das verschwenderisch Kontraste zeichnet, eine Landschaft voller unendlich feiner Schatten. Peter Handke führt in seinem Schlüsselbuch „Die Wiederholung“ den Karstausdruck an: „Der Himmel blüht.“ Licht und Stein. Den Himmel pflücken, aussteigen.
Vom Bahnhof führt eine kleine Straße zum Ort hinaus. Plötzlich umgibt mich Stille, so dass einzelne Geräusche erkennbar werden, ein Hund, gackernde Hühner. In einer Kurve überfällt mich ein intensiver Geruch nach Kamille. Kindheitsbilder, die Besuche sommersüber bei meiner Großmutter auf dem Land. Da sitzt, vor einer vom Weinlaub überwachsenen Holzscheune, eine alte, fast zahnlose Frau und zupft mit flinken Fingern die Kamillenköpfe von den Stielen, unglaublich der Geruch. Ich grüße schüchtern, möchte ein Foto machen, traue mich nicht zu fragen. Ein Luftbild bleibt, voll Kamille und Kindheit.
Štanjel ist ein halb ausgestorbener Ort, malerisch auf einem Hügel postiert, dominiert von einer Renaissanceburg und der Danielskirche mit einem minarettähnlichem Kirchturm. In der Burg befindet sich die ständige Ausstellung des Karstmalers Lojze Spacal, der die spröde Landschaft in Kunst übersetzte. Überhaupt ein verrückter Ort: gerade mal 20 oder 30 bewohnte Häuser, aber eine ummauerte Burg, eine der schönsten Galerien Sloweniens und, mit den Ferrarischen Gärten, eine Parkanlage ähnlich den Villen in Veneto mitten in der Pampa mit wunderbar weitem Ausblick. Völlige Ruhe in den wenigen Gässchen, ein steinerner Ziehbrunnen, ein paar Kastanien voll Vogelgezwitscher und Wärme, die in alle Poren dringt. Genug der Idylle: Im kleinen Markt von Kobdilj gibt es den luftgetrockneten Karstschinken nur im plastikverschweißten Vakuumpack.
In Sežana, an der Hauptstrecke Triest – Ljubljana, endet der Zug. Neben dem Bahnhofsgebäude befindet sich ein kleiner Platz mit einem Brunnen, aus dem ein schlanker Tropfstein herausragt, der auf den Höhlenreichtum der Region verweist. Denn die ganze Gegend ist ein einziger Porenbau. Die mit ferra rossa gefüllten Dolinen, jene eigentümlichen Trichter im Karst mit dicht bepflanzten Böden sind auch nichts anderes als eingebrochene Höhlen, angefüllt mit dem nachgerutschten Erdreich.
Die ganze Gegend – ein einziger Porenbau
Auf dem Platz mit dem Tropfsteinbrunnen steht ein großer, dichter Kirschenbaum voll mit Früchten. Eine Frau mittleren Alters kommt aus der Bar, ihr Kopf streift die untersten Zweige, ich springe auf, Erziehungsreflex, hebe ein wenig den Ast, so dass sie ungehindert passieren kann, mit artigem Nicken und hoheitsvollem Lächeln nimmt sie meine Tat entgegen, rülpst dann laut und deutlich. Der immer währende Wind weht Sprühendes von der Brunnenfontäne her. Und es rauschen die Kirschen. Die elegante Dame kommt wieder, sie hat aus dem Bahnhof einen Stuhl geholt, stellt ihn unter dem Baum dicht an den Stamm, steigt auf den Stuhl, steigt in die Astgabel, steigt einen Ast hoch, verschwindet im dichten Laub. Auch Bäume gehören zum Höhlensystem.
Literatur:
Peter Handke: „Die Wiederholung“. Suhrkamp Verlag Frankfurt/M. 1986.
Ernest Hemingway: „In einem andern Land“. Roman. Aus dem Amerikanischen von Annemarie Horschitz-Horst. Rowohlt Verlag Reinbek bei Hamburg 1957.
Ciril Kosmac: „Tantadruj“. Novelle. Aus dem Slowenischen von Klaus Detlef Olof. Wieser Verlag Klagenfurt/Celovec 1995.
Scipio Slataper: „Mein Karst und andere Schriften“. Promedia Verlag Wien 1989.
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