■ Der Krieg in Dagestan: Russland muss verstehen, dass man nicht mit Luftangriffen regieren kann – und Europa muss helfen
: Ein zweites Tschetschenien?

Krieg, Zerstörung, keine zivile Gesellschaft – das ist der Teufelskreis

Erschreckt und hilflos blickt die Welt auf die Ereignisse in Dagestan: Eine militante islamische Bewegung, die Wahhabiten, angeführt von dem jordanischen Glaubenskämpfer al-Chattab und dem tschetschenischen General Bassajew, hat eine Reihe von Bergdörfern unter ihre Kontrolle gebracht und eine islamische Republik ausgerufen. Sie ist mit schweren Waffen ausgerüstet und droht, ganz Dagestan von der russisch-imperialen Vorherrschaft zu befreien.

Die russische Seite reagiert wie in Tschetschenien mit einer groß angelegten Militäroffensive, die die Bergdörfer zurückerobern und sich auf Tschetschenien ausdehnen soll. Um die Fehler des Tschetschenienkrieges nicht zu wiederholen, werden vor allem Luftangriffe geflogen. Der Krieg hat sich bereits auf weite Teile Dagestans ausgedehnt, auch tschetschenische Dörfer und ein Dorf in Georgien wurden beschossen.

Zwei Wochen intensiver Bombardements und Raketenbeschuss haben vor allem eines gezeigt: Auch dieser Krieg wird tausende von Menschenleben kosten, unzählige Dörfer zerstören und die kaukasischen Lebensräume verwüsten. Armee-Einheiten von mehr als 15.000 Mann sollen herangeführt werden, um die zirka 2.000 islamischen „Banditen“ zu vernichten.

Zu gewinnen ist dieser Krieg nicht, denn Menschen, die aus ihren sozialen Gefügen gerissen werden und in sozialer Verzweiflung leben, sind nicht regierbar, nicht von Maskhadow und schon gar nicht von Moskau. Die einzigen Gewinner dieses Krieges sind die hochrangigen Waffenhändler, die das russische Kriegsgerät an die fanatischen Freiheitskämpfer verkaufen.

Wer sind nun diese islamischen Kämpfer, diese sogenannten Wahhabiten, und wie kommen sie in den Kaukasus? Der Wahhabismus, heute Staatsreligion in Saudi-Arabien, ist eine Reformbewegung des Islam, die sich auf die Ideale des frühen Islam beruft. Als ihr Begründer gilt Mohammed Abdul Wahhab (1703 – 1787), dessen Theorien auf den im 14. Jahrhundert lebenden Theologen und Rechtsgelehrten Ibn Taimiya zurückgehen. Sein Ziel war die Reinigung des Islam von allen Neuerungen und fremden Einflüssen, vor allem wandte er sich gegen die Verherrlichung von Heiligen und ihren Gräbern und gegen Erscheinungen der Volksfrömmigkeit. Einzige Grundlage der staatlichen Gesetzgebung soll der Koran sein. Vor ihm sind alle gleich. Freiwillige Glaubenskrieger brachten die Bewegung während des Krieges nach Tschetschenien und Dagestan. Dort fand sie vor allem Anhänger bei Jugendlichen, die froh waren, dass jemand ihnen einen Teller Suppe, eine Kalaschnikow und eine heilige Idee gab, für die es sich lohnt zu sterben. Haupt dieser Bewegung ist der aus Jordanien stammende Millionär al-Chattab, der verschiedene Ausbildungslager für die Anhänger der Bewegung finanzierte.

Radikale Formen des Islam sind den Gläubigen im Nordkaukasus fremd. Sie sind Sunniten, stehen dem Sufismus nahe und haben von jeher den Islam mit ihren eigenen kulturellen Traditionen verbinden können. Auch der tschetschenische Präsident Aslan Maskhadow distanzierte sich in scharfer Form von den Wahhabiten und entließ Minister Udugow, der der Bewegung nahestand.

Der legendäre Freiheitsterrorist Schamil Bassajew, der einen Rat der Feldkommandeure gründete und in unzähligen Meetings den Rücktritt Maskhadows forderte, scheint sich eher der Bewegung zu bedienen. Er träumt von einem islamischen Gottesstaat, der wie zu Zeiten seines Namensvetters Schamils im 19. Jh. Tschetschenien und Dagestan umfassen soll.

Die Radikalisierung der Gesellschaft und des Islam in Tschetschenien hat seine Ursache in dem Krieg, der mehr als 100.000 Menschenleben kostete, und den verheerenden Folgen, die beinahe noch schlimmer als der Krieg sind. In vielen Gebieten Tschetscheniens hat die soziale Verzweiflung einen Grad erreicht, der es unmöglich macht, eine zivile Gesellschaft aufrechtzuerhalten.

Es war ein Fehler, Tschetschenien mit den Kriegsfolgen allein zu lassen und die Politik Maskhadows nicht zu unterstützen. Ein Fehler der Weltmächte, nicht Russlands, denn Russland ist zu sehr mit eigenen Problemen beschäftigt, als dass es den Wiederaufbau Tschetscheniens leisten könnte, obwohl das im Friedensvertrag vereinbart war. Russland muss davon überzeugt werden, dass ein Land nicht mit Luftangriffen zu regieren ist; dass es verbrecherisch und sinnlos ist, ganze Landesteile zu zerbomben und die Bevölkerung zu vernichten; dass es ohne Hilfe Europas den Kaukasus nicht stabilisieren kann; dass der Aufbau politisch stabiler Gesellschaften den Vorrang hat sowohl vor den Gründungen winziger, nicht lebensfähiger Nationalstaaten als auch vor der veralteten Idee eines Imperiums, welches ohne Blut und Schwert nicht zu halten ist. Viele Imperien haben ihre Kolonien aufgeben müssen.

Europa darf diesen Krieg nicht dulden – auch nicht an seinem äußersten Rand

Die islamisch-fundamentalistischen Bewegungen im Kaukasus wie auch der Terrorismus sind nur von innen heraus zu bekämpfen. Nur eine massive Unterstützung der gemäßigten Kräfte kann helfen, die zivile Gesellschaft wieder aufzubauen. Das heißt im Falle Tschetscheniens massive Unterstützung der Regierung Maskhadows und aller demokratisch gesinnten regierungsunabhängigen Organisationen, von den „Frauen des Nordkaukasus“ bis zu den „Grünen“. Hilfe bei der Verbrechensbekämpfung, bei der Beseitigung der über eine Million Landminen, beim Wiederaufbau von Krankenhäusern, Schulen, Universitäten. Nur eine Einbindung des Kaukasus in die europäische Politik, in ein europäisches Verständnis von Demokratie, kann helfen, diese Region zu stabilisieren und eine noch größere Verwilderung der Region aufzuhalten.

Es sollte im Sinne Russlands sein, eine solche Politik nicht wie bisher zu behindern, sondern zu unterstützen. Da Tschetschenien faktisch selbständig ist und Russland mit dem Tschetschenienkrieg jegliches moralische Recht auf dieses größte Land des Nordkaukasus verloren hat, sollte eine formale Anerkennung Tschetscheniens nicht prinzipiell ausgeschlossen werden. Sie würde den Anschluss Tschetscheniens an Europa und den Wiederaufbau des Landes wesentlich erleichtern und den Einfluss radikaler islamischer Bewegungen hemmen.

Denn eines ist klar: Ohne eine stabile Situation im Kaukasus wird es keine Stabilität in Russland geben. Deshalb ist sie auch für Deutschland von höchstem Interesse. Die Zerstörung Dagestans, Tötung und Entwurzelung seiner Bewohner, die Verwüstung der Bergdörfer und Felder kann und darf nicht widerspruchslos geduldet werden. Das darf es in einem vereinten Europa nicht geben, auch nicht an seinem äußersten Rand. Ekkehard Maaß