„Die Wende – das war ein Prozess wie die Pubertät“

■  Die Psychoanalytikerin Agathe Israel über den Zusammenhang von Adoleszenz und dem Zusammenbruch der DDR. Vielen Jugendlichen wurden die Probleme ihrer Eltern aufgebürdet

taz: Frau Israel, Sie haben für die Berliner Arbeitsgemeinschaft Pyschoanalyse und Psychotherapie eine Tagung über „Pubertät und kultureller Übergangsraum“ mit organisiert. Wie passen Pubertät und die Wende, die damit ja gemeint ist, zusammen?

Agathe Israel: Zehn Jahre nach der Wende wollten wir zwei Prozesse untersuchen, die sich zwar in verschiedenen Daseinsräumen abspielen, aber dennoch eng miteinander verwandt sein können. In der Pubertät durchleben wir eine Lebensphase, die uns zwingt, Trennung, Abschied und Neubeginn zu integrieren. Gesellschaftlicher Wandel, wie durch die Wende herbeigeführt, verlangt ähnliche Prozesse, die man auch als kulturellen Übergangsraum bezeichnen kann.

Auf Ihrer Tagung hieß es, dass ein Teil der Erwachsenen auf die Wende mit Regression, einem Rückfall, „nicht selten auf pubertäres Niveau“ reagiert habe. Was meinen Sie damit?

In der Pubertät müssen neue Aufgaben gelöst, Schritte ins Unbekannte getan werden. Das beschreibt die Situation, in die die DDR-Bevölkerung nach der Wende gekommen ist, recht gut. Damit sind die Menschen ganz unterschiedlich umgegangen.

Auch durch Regression?

Ja. Damit kann das interne Ausmaß an Labilisierung und Erschütterung beschrieben werden.

Im Eröffungsreferat hieß es, in der DDR sei es generell schwierig gewesen, erwachsen zu werden.

Erwachsenwerden heißt, aus der Sicherheit der Familie in die Welt hinauszugehen und dort neue Beziehungen aufzubauen, ohne die Angst, sich in ihnen zu verlieren. Genau das aber setzt ein soziales Klima voraus, das es den Menschen möglich macht, eine solche Autonomie zu gewinnen. Dass es ein solches Klima in der DDR nicht gab, ist nichts Neues. Im gesellschaftlichen Rahmen herrschten dort ähnliche Beziehungen wie in der Familie. Hinauszutreten in den gesellschaftlichen Rahmen mit den Vor- und Nachteilen von Anonymität und sich dort zu profilieren, das war schwer in der DDR.

Das hört sich so an, als wären die DDR-BürgerInnen nach Ihrer Einschätzung nie aus der Pubertät herausgekommen .

Nein, so stimmt das natürlich nicht. Es war einfach schwieriger, erwachsen zu werden. Dafür gibt es auch noch einen weiteren Grund. Wenn man in einer repressiven Gesellschaft lebt, definiert man sich mehr über Ablehnung, also über das, was man nicht will. Für das Erwachsenwerden ist es aber wichtig herauszufinden, was man will, also einen Lebensentwurf zu haben.

Sie selbst haben auf der Tagung Ihre klinische Arbeit mit Jugendlichen vorgestellt, die in der DDR aufgewachsen sind und zur Wendezeit 13 oder 14 Jahre alt und damit mitten in der Pubertät waren. Bei ihnen haben Sie spezielle Probleme festgestellt. Welche sind das?

In der Pubertät müssen sich die Jugendlichen von ihren Eltern lösen und sich andere Liebespersonen suchen. Dazu brauchen sie Gleichaltrige, aber auch Erwachsene außerhalb der Familie, an denen sie sich reiben und erproben können. Wenn die Gesellschaft bebt und die Erwachsenen keine klaren Positionen beziehen, ist das schwer.

Was bedeutete das für die Jugendlichen?

Bei den Jugendlichen haben wir bei diesen Schritten in die Erwachsenenwelt extremen Pessimismus, Depressionen, sehr große Ängste und Selbstaggression bis hin zu Suizidgedanken beobachtet, die in diesem Ausmaß aus der Biografie der Jugendlichen und ihrer Lebenssituation nicht zu erklären sind.

Wo liegen nach Ihren Erkenntnissen die Ursachen dafür?

Bei unseren klinischen Fällen haben wir festgestellt, dass die Eltern dieser Jugendlichen durch die Wende nicht nur sozial entwurzelt, sondern auch sozial abgestürzt sind, ihr soziales Prestige verloren haben. Die Eltern haben sich schnell angepasst und weder rebelliert noch geklagt. Sie sind verstummt, haben aber ihren ganzen Zorn und ihre ganze Trauer auf ihre Kinder projiziert, sie also an diese weitergegeben. Die Jugendlichen mussten ihren Eltern die Bewältigungsarbeit abnehmen. Das war ein ganz typisches Phänomen nach der Wende, aber es gilt natürlich nicht für alle Jugendlichen. Viele haben diesen Prozess auch sehr konstruktiv bewältigt.

Kann man sich von solchen Eltern, wie Sie sie beschrieben haben, überhaupt abgrenzen?

Das ist schwer. Die Kinder fühlen sich für ihre Eltern verantwortlich und deshalb gibt es eine sehr hohe Hemmschwelle, den Eltern so etwas anzutun. Hinzu kommt ein zweites Problem. Die Eltern, die in existentiellen Krisen steckten, haben sich in ihre Nöte zurückgezogen und waren für die Jugendlichen nicht mehr greifbar. Aber genau das brauchen Jugendliche, um sich abzugrenzen und die Eltern schließlich zu verlassen. Diese Jugendlichen aber konnten ihre Eltern nicht verlassen, weil die Eltern sie bereits verlassen hatten.

Was bedeutet all das für Ihre therapeutische Arbeit?

Wir müssen immer mehr Sozialmanagement betreiben, also über unsere eigentliche Arbeit hinaus Dinge übernehmen, die eigentlich Aufgaben der Eltern sind: Wir kümmern uns darum, wo die Jugendlichen nach ihrem Klinikaufenthalt wohnen, wo sie arbeiten, wie sie ihre Freizeit gestalten.

Wie häufig sind solche Fälle? Gibt es statistische Daten dazu?

Ich spreche hier nur von meinen Erfahrungen aus der Klinik. Hier erleben wir zwar Extremfälle, sie zeigen aber eine gesellschaftliche Tendenz. Zahlen, wie weit verbreitet solche Erkrankungen genau sind, kann ich nicht nennen.

Interview: Sabine am Orde

Agathe Israel ist Chefärztin der Abteilung Kinder- und Jugendpsychatrie am Evangelischen Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge in Berlin-Lichtenberg und Leiterin des Instituts für analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie der Arbeitsgemeinschaft für Psychoanalyse und Psychotherapie Berlin (APB).

Die APB, die 1990 gegründet wurde, ist das bislang einzige psychoanalytische Ausbildungsinstitut im Ostteil der Stadt, an dem inzwischen aber auch TherapeutInnen aus dem Westteil unterrichten. Ausgebildet wurden von Anfang an KandidatInnen aus ganz Berlin. Am vergangenen Wochenende veranstaltete die APB eine Tagung zum Thema „Pubertät und kultureller Übergangsraum“.