Zurück zum Punkt null

Im neuen Verfahren um den Brand in der Lübecker Flüchtlingsunterkunft möchte das Kieler Landgericht die Vergangenheit am liebsten ausblenden. Die Verteidigung ist dagegen  ■ Von Elke Spanner

Man begrüßt sich mit Namen. Alle kennen sich noch vom letzten Mal. Die JournalistInnen. Die ZuschauerInnen. Die Beteiligten. Sogar die Parolen, die vor dem Kieler Landgericht auf Transparenten zu lesen sind, säumten schon beim ersten Prozess gegen Safwan Eid den Weg zum Gerichtsgebäude: „Deutschland spricht sich frei“, und: „Keine Verfolgung von Opfern rassistischer Anschläge“.

Auf der Anklagebank ist die Sitzordnung die alte: Links Safwan Eid, in der Mitte die Hamburger Anwältin Gabriele Heinecke. Ihre Hannoveraner Kollegin Barbara Klawitter blickt wieder hochkonzentriert über den Rand ihrer Lesebrille hinweg in den Bildschirm ihres Laptop, kaum dass die ersten Worte gefallen sind. Schräg gegenüber sitzt die Familie El Omari, wie immer vorne rechts. Heute allerdings ohne die Töchter, die beim ersten Prozess zwei Mal die Woche den ganzen Tag mit ausharrten. Die El Omaris sind die einzigen der ehemaligen BewohnerInnen der Flüchtlingsunterkunft in der Lübecker Hafenstrasse, die als NebenklägerInnen zugelassen sind. Als einzige hatten sie im ersten Verfahren nicht Freispruch für Eid gefordert.

Trotzdem hier alte Bekannte aufeinandertreffen, will das Gericht „keinen Rückblick in die Vergangenheit“, wie der Vorsitzende Richter Jochen Strebos immer wieder betont. Nur seine Jugendkammer und die Staatsanwaltschaft sind neu im Verfahren. Im September 1996 wurde Safwan Eid vor dem Lübecker Landgericht angeklagt. Das sprach ihn 1997 frei.

Die damalige Lübecker Jugendkammer hatte allerdings nicht die Protokolle abgehörter Gespräche zwischen Eid und Familienmitgliedern in der Untersuchungshaft berücksichtigt. Denn juristisch sei zweifelhaft, ob Eid in der Besucherzelle belauscht werden durfte. Im übrigen würden auch die Bänder den Libanesen nicht als Täter überführen, argumentierte damals das Gericht. Die Familie El Omari ging in die Revision. Und der Bundesgerichtshof (BGH) hob das Urteil wieder auf und verwies ans Kieler Landgericht zurück.

So ist auch Staatsanwalt Andreas Martins in das Verfahren hineingestolpert, unfreiwillig. Er fühlt sich sichtlich unwohl in seiner Haut. Ermittlungen gegen Eid hat er nie geführt, und selbst die Ankläger, die es damals taten, hatten den Freispruch des ersten Prozesses nicht angefochten. Martins verliest die Anklage und betont, dass nicht er sie geschrieben hat. Es sind die Sätze des damaligen Ermittlers Michael Böckenhauer vom Mai 1996. Überarbeitet, so beteuert Martins, habe er nicht ein Wort.

Auch Richter Strebos legt Wert auf die Feststellung, dass die Kammer neu in dem Verfahren ist. Unvorbelastet. Und deshalb beim Punkt null anfangen will: „Die Vergangenheit lassen wir außen vor“.

Strebos präsentiert seinen Plan, auf der Unvoreingenommenheit der Kammer den Prozess aufzubauen: zunächst will er nur die Indizien zusammenzutragen, die gegen Safwan Eid sprechen. Damit wolle er sich und den Schöffen einen „ersten Überblick“ verschaffen, kündigt er an. Strebos bemüht sich redlich, den anderen seine Taktik schmackhaft zu machen. Wenn diese Indizien nicht ausreichen sollten, wäre Eid auf der Grundlage freizusprechen. Er schließe nicht aus, stellt der Richter mehrfach in Aussicht, dass der Prozess dann „sehr schnell zu Ende gehen kann“.

Punkt null in einer Geschichte, in der Safwan Eid bereits sechs Monate in Untersuchungshaft saß. In der monatelang vor Gericht darum gerungen wurde, ob er freigesprochen oder für Jahre ins Gefängnis gehen wird – wegen fahrlässiger Tötung in zehn Fällen und Körperverletzung von 38 Flüchtlingen. Wo die Ermittlungen gegen vier tatverdächtige Männer aus Grevesmühlen eingestellt wurden, obwohl einer von ihnen gestanden hat. Die Verteidigung interveniert.

„Die Vergangenheit hat uns hierhin gebracht“, meldet sich Rechtsanwältin Heinecke zu Wort, und Kollegin Klawitter adjutiert: „Wäre das Verfahren nicht von Beginn an geprägt von einseitigen Ermittlungen der Lübecker Staatsanwaltschaft, würden wir uns heute hier nicht versammeln müssen“. Nebenklageanwalt Wolfgang Claussen, der die Familie El Omari vertritt, widerspricht. Der erste Schlagabtausch. Die alten Gegensätze brechen auf.

Schon nach wenigen Minuten ist Strebos nicht nur Richter über Safwan Eid, er ist auch Schiedsrichter zwischen Verteidigung und Nebenklage. Er selbst sitzt erstmals Beteiligten gegenüber, die schon monatelang zwei Mal die Woche erbittert gekämpft haben – auch gegeneinander. Strebos will das Verfahren von sämtlichen Altlasten reinigen. Klawitter klärt ihn auf: „Das Verfahren leidet von Beginn an unter einem wesentlichem Mangel, und der lässt sich nicht heilen“.

Schon geht es nicht mehr um einen Neuanfang, eine allein von der Kammer ausgeheckte Prozessstrategie. Es geht um Vermittlung, um einen Kompromiss. Strebos reagiert. Den ersten Antrag von Heinecke und Klawitter, vor allen anderen ZeugInnen den damaligen Staatsanwalt Michael Böckenhauer zu laden, um die vermeintliche Einseitigkeit seiner Ermittlungen herauszustellen, lehnt die Kammer noch ab. Dann trifft sie sich in der Mittagspause mit allen Beteiligten zum internen Gespräch. Und wirft die bisherige Tagesordnung bereitwillig um.

Man sei sich darin einig, verkündet Strebos anschließend, das prozessentscheidend die Abhörprotokolle aus der Untersuchungshaft seien. Folglich müssten diese verlesen werden, ehe ZeugInnen zur Aussage vorgeladen werden. Da der Sachverständige noch im Urlaub weilt, wurde der Prozess zunächst für zwei Wochen unterbrochen – einvernehmlich.

In einem Punkt stellt Strebos indes klar, dass er nicht mit sich reden lassen wird. Immer wieder weisen Heinecke und Klawitter auf die Indizien gegen vier tatverdächtige Männer aus Grevesmühlen hin. Doch in Kiel werde Gegenstand der Verhandlung „allein die strafrechtliche Verstrickung von Safwan Eid, nicht die anderer Personen sein“.