: Indiens dritte Wahl in drei Jahren
■ Im Wahlkampf der größten Demokratie der Welt dominiert die Obsession mit Persönlichkeiten und der nationalen Sicherheit
Berlin (taz) – Bei den am Sonntag beginnenden indischen Parlamentswahlen, den dritten innerhalb von drei Jahren, werden die 605 Millionen Stimmberechtigten von 200 Parteien und rund 5.000 Kandidaten umworben. Entschieden wird per Mehrheitswahlrecht. Um eine freie Stimmabgabe zu ermöglichen und um Wahlbetrug zu verhindern, sind über eine Million Sicherheitskräfte im Einsatz. Allein im indischen Teil Kaschmirs kommt auf jedes Wahllokal ein Wachtrupp von 15 Mann. Diese organisatorische Leistung ist nur möglich, wenn die Wahltermine für die 543 Sitze auf insgesamt fünf Tage verteilt werden. Der letzte ist der 3. Oktober, und die Endergebnisse werden am 7.Oktober erwartet.
Die Wahlen wurden nötig, nachdem die von Premierminister Atal Behari Vajpayee geführte Koalition im April ein Misstrauensvotum knapp verlor. Zuvor hatte eine Regionalpartei aus Tamil Nadu die Koalition verlassen. Der 72jährige dichtende Junggeselle Vajpayee ist das gemäßigte Gesicht der nationalistischen Bharatiya Janata-Partei (BJP). Er temperiert seine feurigen Reden mit Volkswitz und Reimversen. Sein liberaler Parteiflügel wird im Wahlkampf von den zwölf kleinen Parteien der regierenden Nationalen Demokratische Allianz (NDA) gestützt. Sie legten die hinduistischen Extremisten der BJP auf eine gemäßigte Wahlplattform fest. Umfragen sagen der NDA eine Zunahme ihrer Mandatszahl von 270 auf 330 Sitze voraus. Die Kongress-Partei als wichtigste Oppositionspartei würde dagegen ihre Sitze von 140 auf 120 schrumpfen sehen.
Der väterlichen Gestalt Vajpayees konnte die Vorsitzende des Kongresses, Sonia Gandhi, bisher nicht das Wasser reichen. Der Parteiausschluss der von Sharad Pawar geführten Fraktion, die gegen die Kandidatur der gebürtigen Italienerin als Premierministerin protestiert hatte, machte ihre ausländische Herkunft vollends zu einem wichtigen Wahlkampfthema. Es gelang Gandhi bisher nicht, sich aus dem Schussfeld zu nehmen und das Thema der nationalen Sicherheit dagegen zu setzen. Ihre Strategie, den jüngsten Waffengang mit Pakistan zu benützen, um Vajpayee als einen vertrauensseligen Regierungschef darzustellen, der seinen pakistanischen Kollegen in Lahore umarmt, während dieser eine Invasion Indiens plante, scheint bisher wenig gebracht zu haben. Im Gegenteil, es gelang der BJP Vajpayee als ehrlichen Friedensmakler zu projizieren, der nicht zögerte, Indiens Militärmacht in die Schlacht zu werfen, als die nationalen Grenzen zu wanken begannen. Auch eine Kampagne, die in Vajpayees Privatleben stocherte und seine Adoptivtochter zu einer unehelichen machen wollte, hatte wenig Wirkung.
Die bisherige Obsession mit Persönlichkeiten und Themen der nationalen Sicherheit hat die brennenden Fragen des Landes aus dem Wahlkampf verdrängt. Auch kleinere Parteien appellieren lieber an Kasteninteressen und regionale Solidarität statt an die unmittelbaren Probleme von Armut, Unterbeschäftigung und Korruption. Die Unfähigkeit des politischen Systems, hier Antworten zu finden, hat den Urnengang vom selbstbewussten politischen Akt zur Routinehandlung abgewertet. Dennoch bleiben die Parlamentswahlen ein Symbol für die politische Stabilität dieser größten Demokratie der Welt. Die Brüchigkeit gewählter Regierungen versperrt manchmal den Blick auf den Grundkonsens in einer Gesellschaft, deren Mitglieder zur Hälfte nicht lesen und schreiben können und die ihre Entscheidungen mit Hilfe von Symbolen – Elefant, Leiter, Fahrrad, Lotusblume – fällen müssen. Bernard Imhasly
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