Der Zerrspiegel der Vereinigung

taz-Serie „Grenzstadt Berlin (Teil 5): Zehn Jahre nach dem Mauerfall gibt es keine Einheit. Stattdessen projizieren die einst alternativen Westberliner die Skrupel ihrer Ankunft in der Neuen Mitte auf den Osten. Eine Provokation  ■ Von Uwe Rada

Drei Beobachtungen, zehn Jahre danach. Es gibt Statistiken, aus denen geht hervor, dass sich Ostberliner und Westberliner noch immer weitgehend in ihren jeweiligen Stadthälften aufhalten. Es gibt mit Mitte und Prenzlauer Berg aber auch zwei Ostberliner Stadtbezirke, in denen sich die Bevölkerung seit der Wende zu mehr als der Hälfte augetauscht hat. Gleichwohl errang die PDS-Kandidatin Petra Pau bei der vergangenen Bundestagswahl genau dort ein Direktmandat gegen Wolfgang Thierse (SPD). Kaum im Osten, wählen auch „gelernte Wessis“ PDS. Ein Widerspruch?

Auch im Umland wächst die Segregation. Seit vor drei Jahren der Exodus aus den Berliner Innenstadtquartieren eingesetzt hat, sortiert sich die Bevölkerung am Rande Berlins neu. Jene Westberliner, die den Sprung nach Brandenburg wagen, suchen Halt bei ihresgleichen, gründen Bürgerinitiativen oder Montessori-Kinderläden, schotten sich von den Wohnorten der Einheimischen ab oder zwingen sie in eigens errichtete Ost-Ghettos wie in Kleinmachnow. Die Einheimischen wiederum verwehren den Fremden den Eintritt in die Dorfgemeinschaft. Kein Vereinigungskonflikt ist das, sondern ein Trennungskonflikt. Einer, der in der Regel vor sich hin schlummert und nur manchmal virulent wird. Zum Beispiel wenn es um die Erziehung oder die Einschulung der Kinder geht. Freie Schulwahl fordern dann die ehemaligen Westberliner und wollen ihre Kinder am liebsten in den Westberliner Randbezirken unterbringen. Oder soll ihr Kind etwa in die Obhut einer ostdeutschen Erzieherin gegeben werden?

Soll ihr Kind etwa werden wie die Ostkinder? Rau, zur Gleichmacherei erzogen, alles potenzielle Nazis? Aus Westberliner Perspektive jedenfalls hat sich das Bild des Umlands gründlich geändert. Aus der gerade erst entdeckten landschaftlichen Idylle der märkischen Seen, Wälder und Dörfer ist ein rassistischer Alptraum geworden, eine national befreite Zone, in der sich vor allem Westberliner Schulklassen mit ihren türkischen Schülern nicht mehr blicken lassen sollten. Schon fordern ehemals polizeikritische Westler den Polizeistaat im Osten, von Prävention und Ursachenforschung ist kaum mehr die Rede.

Was ist hier Wirklichkeit, was Projektion? Allen drei Beobachtungen liegen zunächst Befunde zugrunde, die nahe legen, dass es um die deutsch-deutsche Einigung im sozialen und räumlichen Kosmos der ehemals geteilten Stadt Berlin nicht nur schlecht bestellt ist, sondern dass sie, zehn Jahre danach, als gescheitert gelten kann.

Einen der aufschlussreichsten Berichte über diese neue Grenze zwischen West und Ost hat der Bostoner Soziologe Andreas Glaeser geliefert, der neun Monate lang den „Mikrokosmos der Einheit“ in Form gemischter Streifenwagenbesatzungen der Polizei untersucht hat. Sein Ergebnis: Ostpolizisten würden die ehemals vertrauten Räume ihrer Stadt als zunehmend fremd empfinden, sie hätten keine Möglichkeit, selbst auf die Gestaltung dieser Räume einzuwirken. Aber nur, wenn jede Bevölkerungsgruppe einer Stadt die Möglichkeit hat, an der Gestaltung der Räume teilzuhaben, so Glaeser, kann von einer wirklichen Demokratie gesprochen werden.

Doch mittlerweile ist nicht nur den meisten Ostberlinern der Zugriff auf den städtischen Raum verwehrt, sondern auch all den anderen, die nicht zur „Neuen Mitte“ gehören. Das betrifft Migranten ebenso wie jene Westberliner, deren Lebensentwürfe nicht mit dem biografischen Profil der Dienstleistungs- oder Risikogesellschaft vereinbar sind. Nicht zu Unrecht hat deshalb der Soziologe Wilhelm Heitmeyer darauf hingewiesen, dass die „Krise der Städte“ vor allem das Ergebnis des neoliberalen Strukturwandels und der Deregulierung sozialer Sicherungssysteme ist. Vor diesem Hintergrund ist der Ost-West-Konflikt nichts anderes als eine zeitlich verschobene deutsch-deutsche Fußnote in einem globalen Umbruchprozess.

Dennoch scheinen die Gräben zwischen Ost und West die neuen Grenzen noch immer zu überlagern. Ein Widerspruch? Zumindest dann nicht, wenn man davon ausgeht, dass die Gründe für das Vertiefen der Ost-West-Differenzen weniger in den globalen Veränderungen selbst als im Umgang mit diesen zu suchen sind.

Der Journalist Christoph Seils hat die im Osten mehrheitliche Ablehnung der deutschen Kriegsbeteiligung in Jugoslawien einmal mit dem Fortbestehen ideologischer, antiwestlicher Dispositionen erklärt. Die Ostler, erklärt er ganz im aufklärerischen Tonfall des rheinischen Demokraten, „haben die Diskurse der westdeutschen Zivilgesellschaft in den letzten zehn Jahren nicht nachvollzogen“. Wer aber hinterfragt die Diskurse, für die Seils steht? Wer versucht einmal zu erklären, warum sich die Westdeutschen, wie er schreibt, „mehrheitlich zur Zustimmung zum Krieg quälen“? Den vielleicht interessantesten, bestimmt aber provokantesten Lagebericht zur Befindlichkeit der westdeutschen Kriegsbefürworter hat Klaus Theweleit in der Zeitschrift konkret veröffentlicht. Den Bellizismus der Fischers und Co. erklärt er mit einem nachgeholten Prozess des „Erwachsenwerdens“. Vor diesem Hintergrund ist die Kriegszustimmung im Westen nur eine Metapher für etwas Grundsätzlicheres: die – nahezu skrupellose – Ankunft der ehemaligen bundesdeutschen Oppositionellen in der Neuen Mitte (und auf den Regierungsbänken) der Berliner Republik.

Genau diese Skrupel sind es aber, die dem Ost-West-Konflikt in der Grenzstadt Berlin zuallererst zugrunde liegen, und zwar auf beiden Seiten. In Westberlin ist es vor allem das Bekenntnis zur multikulturellen Gesellschaft, das die skrupellose Ankunft in der Neuen Mitte noch verzögert. Doch auch hier ist Bewegung ins Spiel gekommen, zum Beispiel im Versuch einer kulturellen Umbewertung sozialer und räumlicher Segregation, wie er etwa von dem Soziologen Walter Siebel auf einem internationalen Migrationskongress 1997 in Berlin unternommen wurde. Für Siebel ist diese „Ghettoisierung“ kein Hinweis auf das Scheitern einer – auch sozial gemeinten – Integrationspolitik, sondern Ausdruck ökonomischer Überlebenstechniken einer Gesellschaft, deren Verlierern nicht mehr die sozialen Sicherungssysteme zur Verfügung stehen, sondern allenfalls noch die Subsistenzwirtschaft. Entsprechend hat sich auch der Fokus des multikulturellen Bekenntnisses geändert, liegt der Schwerpunkt nicht mehr auf sozialer Integration, sondern auf bürgerrechtlicher Gleichstellung. Und selbst jene ist, wie es der rot-grüne Kompromiss in Sachen Staatsbürgerschaftsrecht gezeigt hat, an den Nachweis eines Mindesteinkommens geknüpft.

Dieser Paradigmenwechsel ist im grün-alternativen Milieu allerdings noch nicht in Gänze angekommen. Auf der räumlichen Quartiersebene der Einwandererviertel werden die sozialen Praktiken ausländischer Jugendlicher zwar wortreich beklagt (oder zum Anlass dafür genommen, in ein „besseres“ Gebiet zu ziehen). Als Spiegel der eigenen Ankunft werden sie freilich noch immer nicht betrachtet. Dabei ist die Desperado-Mentalität zahlreicher Jugendlicher oft nichts anderes als eine Reaktion auf die Lebensperspektive eines dauerhaften Ausschlusses, des Abgehängtseins von der Warenwelt der Konsumgesellschaft. Dies zu realisieren hieße für die grün-alternativen Mittelschichten allerdings, sich endgültig eingestehen zu müssen, dass es eine rot-grüne Alternative ohne gesellschaftlichen Ausschluss nicht gibt. Vor diesem Hintergrund kommen die Ostberliner und Brandenburger Jugendlichen gerade recht. Dass sowohl das Macho-Verhalten der Migrantenjugendlichen als auch die rechte Subkultur der Ostjugendlichen als kulturelle Formen der Selbstghettoisierung eine von sicher vielen Folgen des gesellschaftlichen Ausschlusses sind, kann so lange verdrängt werden, solange sich die soziale Polarisierung in den Migrantenvierteln Westberlins noch kulturell positiv besetzen lässt. Wer ständig mit dem Finger auf den Osten zeigt, muss es mit den Verhältnissen vor der eigenen Haustüre nicht so genau nehmen.

Das gilt im Übrigen nicht nur für die rechte Jugendkultur, sondern auch für die Erziehungsdebatte, die seit diesem Jahr in Gestalt des Hannoveraner Kriminologen Christian Pfeiffer so scheinbar unvermittelt über die Ostdeutschen hereingebrochen ist. An die Erziehungsdebatte, mit der die Westdeutschen dank der Zeitschrift Kursbuch bereits 1993 konfrontiert wurden, erinnert man sich heute nicht mehr gern. Welcher 68er lässt sich schon gern sagen, dass die antiautoritäre Erziehung ebenso zur Erosion sozialer Kompetenz geführt hat, wie die kollektive DDR-Erziehung mitunter die individuelle Eigenverantwortung mit Füßen getreten hat?

Während im Westen die Skrupel der eigenen Ankunft vor allem auf den Osten projiziert werden, addieren sich aus der Perspektive des Ostens die kollektiven Erfahrungen des Anschlusses mit denen der neoliberalen Modernisierung zur weit verbreiteten Ablehnung der politischen Praxis der Bundesrepublik. Dabei ist diese „Ostalgie“ oft nur eine Form der Verdrängung jenes Umstandes, dass es eine Aussicht auf einen tatsächlich demokratischen Vereinigungsprozess, wenn überhaupt, nur in den wenigen Monaten nach dem Fall der Mauer gegeben hat. Mit dieser Distanz hält der Osten auch dem einst oppositionellen Milieu des Westens einen Spiegel vor, erinnert daran, dass grün-alternative Politik einmal nicht nur organisierte Verantwortungslosigkeit war und nicht nur das Individuum, sondern auch die Gesellschaft in den Mittelpunkt gestellt hat.

Kein Wunder also, dass die innere Distanz der Ostler gegenüber dem Westen nicht als Enttäuschung über die Abwesenheit von sozialer Teilhabe gedeutet wird, sondern von vielen westlichen Akteuren wie zuletzt Jutta Limbach ins Gegenteil gekehrt und als Mangel an demokratischen Fertigkeiten denunziert wird. Mit dem gleichen Maßstab müsste Limbach allerdings auch einen großen Teil der Einwanderer der Demokratieunfähigkeit bezichtigen – und sich damit eingestehen, dass sich die Typologie Ost und West schon längst ihres geografischen Ursprungs enthoben hat und sich als Metapher für den modernisierungswütigen und den modernisierungsunwilligen Teil der Gesellschaft etabliert hat.

„Die Nonkonformisten von einst“, schreibt der Ostberliner Soziologe Wolfgang Engler über die westdeutschen und Westberliner 68er, „blicken heute in ihren eigenen Zerrspiegel, den sie aber nicht zu zerschlagen wagen, weil sie um die Revision ihrer 'Errungenschaften' fürchten.“ Die Folge ist eine zunehmende Flucht in die privaten Räume des Erfolgs und der Zerstreuung.

Wie labil diese Räume aber sind, wie sehr das Wissen um den „Zerrspiegel“ auch die Handlungen der Dazugehörigen steuert, zeigt sich nicht zuletzt in den eingangs benannten Beobachtungen. Gemeinsam ist ihnen das Paradoxon, dass die Ost-West-Auseinandersetzung aus Gründen mangelnder Neugier oder nachhaltiger Sättigung abgenommen hat, dort aber, wo sie noch stattfindet, weil man ihr nicht aus dem Weg gehen kann, nicht selten als gegenseitige Schuldzuweisung an Intensität zunimmt. Dass das aber nicht zwangsläufig so sein muss, zeigt das Beispiel aus Mitte und Prenzlauer Berg. Vom „Laboratorium der Einheit“ noch weit entfernt, deutet sich im veränderten Wahlverhalten der „Wossis“ dennoch etwas an, was weniger mit gegenseitigen Projektionen (oder einer Annäherung an die PDS) zu tun hat. Es ist vielmehr ein Perspektivenwechsel, der die Realität der „anderen Seite“ nicht nur als Bedrohung der eigenen Existenz zur Kenntnis nimmt, sondern als eine andere kulturelle und soziale Erfahrung gelten lässt. Gleiches gilt auch für die Ostberliner Grenzgänger, die mittlerweile in Kreuzberg zu Hause sind. In diesen tatsächlich „multikulturellen“ Erfahrungen, im Wechsel der Perspektiven, wird sich der „zivilgesellschaftliche“ Umgang mit den neuen Grenzen zeigen und nicht im perspektivlosen Blick auf die „Einheit“.

Wer ständig mit dem Finger auf den rechten Osten zeigt, muss es mit den Verhältnissen vor der eigenen Haustür schließlich nicht so ernst nehmen