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330.000 Deppen und ein Happy End ■ Von Joachim Frisch
Unter dem Motto „Hurra, die Deppen sind weg!“ feierten im August ein paar Hamburger Musiker wie jedes Jahr ein Fest, weil all diejenigen, die sich für eine wichtige Figur im Rock- und Popzirkus halten oder wichtige Figuren kennen lernen oder sich zwischen wichtigen Figuren herumtreiben wollten, nach Köln zur Popcom fuhren. Als ich davon hörte, entschloss ich mich, die Gelegenheit zu einem Streifzug durch ein deppenfreies St. Pauli zu nutzen.
Stattdessen erlebte ich die größte Deppeninvasion meines Lebens. Vielleicht waren einige hundert Hamburger Deppen in Köln, dafür aber waren die Straßen St. Paulis derart voller Deppen, daß diese über die Straßenränder quollen wie kochende Milch über den Topfrand. 330.000 hat jemand gezählt, und ausnahmslos alle huldigten grölend den beschissensten Melodien und den beschämendsten Texten des Universums. Statt des „Hurra“ des ehrenwerten Herrn Rellöm und seiner Musikerfreunde hallten millionenfach „Hossas“ aus 330.000 Deppenkehlen durch die Straßen.
Aufgekratzt wie Nachbars Waldi vor der Wursttheke zappelten und fuchtelten die Deppen, reagierten wie Pawlowsche Köter auf die tumben Reize der blöden Rhythmen, klatschten, riefen „Hossa“, heulten „Griechischer Wein“, greinten „Marläään“ und kreischten „Höllehöllehölle“. Zur Belohnung verfrachtete man die vordersten Deppen auf die Ladeflächen von Sattelschleppern, wo sie vollends durchknallten und sich aufführten wie Nachbars Lumpi in einem Hundesalon voller paarungswilliger Pudeldamen. Die Waldis auf den Straßen winkten den Lumpis auf den Ladeflächen zu und umgekehrt, und alle hechelten und sabberten und bellten die furchtbaren Schlagermelodien und vergaßen sich selbst und die Welt. Deppen, Schlagermusik, Rex, Waldi, Gildo und Lumpi verschmolzen zu einer klebrigen Masse aus Schmalz und Sülze, die selbst gestandene Punks, furchtlose Luden und die Geldeintreiber der Russenmafia nicht verschonte. Verzweifelte Menschen verstopften ihre Ohrmuscheln mit allem, was Linderung versprach: Wachskügelchen, Kaugummi, Pommes frites, Zigarettenkippen, doch der Schlagerlärm drang noch durch die kleinste Ritze in die Gehörgänge der Unglückseligen.
Ich mußte einige Deppen erschlagen, um zu meinen Gemächern in der fünften Etage zu gelangen, doch selbst dort gab es kein Entkommen. Die Deppen waren mit den stärksten Lautsprechern der Welt ausgerüstet, sodass der Brei immer höher stieg, sodass schließlich auch die Bedauernswerten nicht verschont blieben, die ihr Hab und Gut im Stich gelassen hatten und auf die Dächer geflüchtet waren. Ihre Hilfeschreie hörte natürlich niemand, und so hätte der süße Schlagerbrei der Deppen das ganze Volk der Sanktpaulianer ins Verderben gerissen, wäre nicht ein junges Mädchen aufgetaucht und hätte den Zauberspruch gesprochen: „Hossa Stop!“
Sofort verstummten die Deppen, der zähe Schlagerbrei hörte auf der Stelle zu fließen auf, und nie wieder hörte irgendein Mensch die Schlager von Udo, Marianne, Brunner & Brunner, Rex und Guildo und Howard. Und wenn die Deppen und Schlagerfuzzis schon nicht gestorben waren, so sollten sie doch für alle Zeit verstummt bleiben.
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