: Schütteln und Backen
■ Henning Harnisch
Was bisher geschah: Der Autor ist im Trainingslager und erinnert sich voller Schrecken des Lagerkollers. Der „Schlach“ soll ihm helfen.
Es war ein heißer Tip aus der Disco, die noch eine echte war. Jetzt stehen wir inmitten Paderborner Outlaws und polnischer Lkw-Fahrer, vertilgen unsere zweite Currywurst und sind glücklich. Welch ein Augenblick! Gelebter Augenblick, mitten im Fauserschen Deutschland. Eine Pommesbude im Paderborner Industriegebiet um vier Uhr morgens. Wir sind zu dritt, geflohen aus der Tristesse des Trainingslagers. Unvernünftig sind wir. Es ist ein wunderbares Gefühl, so die Kindheit verlängern zu dürfen.
Immer wieder: Das heimliche Herausstehlen aus dem offenen Vollzug
Doch leider sind wir keine wahren Desperados der Nacht. Die Schule der Situationisten besuchen wir nur temporär. Wir sind Profis im Trainingslager. Schon im Taxi auf dem Nachhauseweg („Einmal Hotel Ibis, bitteschön“) sitzt die Angst im Nacken. Während wir unser Dosenbier ausschlabbern, sind wir gedanklich beim morgendlichen Training. Die Biere werden sich in stinkenden Schweiß verwandeln. Viel Schweiß.
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Verbotene Bücher im Trainingslager:
Greil Marcus: Lipstick Traces; Jörg Fauser: Alles; Wenedikt Jerofejew: Die Reise nach Petuschki; Franz Dobler: Bierherz; A.F.Th. van der Heijden: Der Anwalt der Hähne
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Wir denken an unseren Vater, der als Trainer verkleidet in der Lobby warten könnte. Wie alt sind wir, sechzehn? Mit der letzten aus dem Taxifenster geschnippten Fluppe verabschieden wir uns von der langen Nacht, ein kleiner Seufzer; gemeinsames Schweigen. Langsam steigt der Kater auf den Rücken, verflucht, morgen wird er sich richtig schwer machen. Immer wieder: Herausstehlen aus dem offenen Vollzug. Und immer wieder zurück kommen. Meines Wissens ist noch niemand dauerhaft weggeblieben.
Die Eindrücke vermischen sich. Aus Paderborn wird ein nächtliches Heidelberg. Allein dem Heidelberger Bundesleistungszentrum entflohen, spaziere ich vergnügt die Straße Richtung Schwimmbadclub entlang. Die Lombego Surfer spielen dort. Schweizer Rock 'n' Roll. Der Club ist durchschnittlich gefüllt. Das Konzert auch. Freunde von mir sind da. Sie sind treue Fans der Lombegos. Ab und zu reisen sie ihnen nach und freuen sich an den älteren Herren.
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Pflichtlektüre im Trainingslager:
Roland Barthes: Fragmente einer Sprache der Liebe: Über die Askese; Michel Foucault: Überwachen und Strafe; Franz Kafka: In der Strafkolonie; Ernst Bloch: Prinzip Hoffnung; Div. Autoren: Die Bibel
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Rock 'n' Roll, der nicht vorgibt, etwas gewinnen zu wollen. Garantiert ist nur ein guter Abend. Ich spare es mir, meine Freunde über meine nächtliche Flucht aus dem Trainingslager aufzuklären. Ich bin einfach froh, dabei zu sein. Wir schreien „Lombegos!“. Nach dem Konzert fahren wir in die Stadt, finden eine Fußgängerzone und Kneipen, in denen Bananen-Hefeweizen ausgeschenkt wird. Wir fahren mit Einkaufswagen in Parkhäuser. Wir lassen Einkaufswagen abschüssige Disco-Eingänge hinabrollen. Wir laufen, wir lachen. Wir sind albern. Um vier Uhr früh setzen sie mich vor dem Bundesleistungszentrum ab. Um neun Uhr ist Training. Für mich.
Sprung nach Rogla, Slowenien, ins Jahr 1997. Sechzehn Trainingslager stehen auf der Habenseite. Ich warte. Ich warte seit Tagen auf den „Schlach“. Doch die Nacht, die den Koller besänftigt, ihn für kurze Zeit einlullt, sie bleibt aus. Warum? Im Nachhinein ist man immer klüger. Jetzt kann ich mit Bestimmtheit sagen, dass spätestens hier der Augenblick gekommen war, wo es nicht mehr zu leugnen war: Das war's! Nie mehr unfreiwillig verreisen, nie mehr Männerbund.
Ich gedenke meines Freundes Michael Koch, mittlerweile Basketballer in Diensten von Panathinaikos Athen, mit dem ich tausend Tage Bett, Zimmer und Koller geteilt habe. Dieser Tage ist er aus dem Trainigslager zurückgekehrt – aus Rogla, Slowenien. Sein Trainer ist ein Jugoslawe. Seit Tagen weckt mich um 6 Uhr 30 Maschinenlärm. Im Berliner Osten wird gearbeitet. Früh. Sollen sie machen. Ich fahre weg. Und nicht ins Trainingslager.
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