Wie der Atomstaat kapitulierte

taz-Serie „Jeden Tag ein guter Grund für den Atomausstieg“: Der Widerstand gegen das in Wyhl geplante AKW war der Anfang vom langen Ende der Atomkraft  ■   Von Bernward Janzing

„Ohne das Kernkraftwerk Wyhl werden bis zum Ende des Jahrzehnts in Baden-Württemberg die ersten Lichter ausgehen.“ Der damalige Ministerpräsident Hans Filbinger setzte 1975 mit diesem Satz das Symbol für die Verlogenheit des Atomstaates. Ein knappes Vierteljahrhundert später ist weder Wyhl gebaut – noch ist wegen Strommangels auch nur ein einziges Lichtlein ausgegangen. Statt dessen bestimmen Überkapazitäten die Stromwirtschaft: Die damals vom Badenwerk prophezeite zehnjährige Verbrauchsverdopplung ist ausgeblieben.

Whyl: ein Projekt der Fehleinschätzungen. Im Februar 1975 besetzten Winzer und Studenten, katholische Landfrauen und Akademiker, Handwerker und Pfarrer das Baugelände. Im Wyhler Wald, 30 Kilometer nordwestlich von Freiburg, schufen sie damit den Anfang der deutschen Anti-Atom-Bewegung. Landesvater Filbinger rotierte. Als „Extremisten, die hier unseren demokratischen Rechtsstaat angreifen“, beschimpfte er harmlose Bürger. In der Regionalpresse verlangte er, „dass sich jeder vernünftige Bürger von den Radikalen distanziert“. Die aber waren nicht radikal – sondern schlicht die Mehrheit. 77 Prozent der Bürger im betroffenen Landkreis Emmendingen waren gegen das Atomkraftwerk, ergab seinerzeit eine Studie des Forschungsministeriums.

Die Umweltbewegung der Republik verfolgte den Kampf in Wyhl aufmerksam. Denn die Pläne des Atomstaates drohten jeden zu treffen: Der Bau von 600 Atomkraftwerken in Deutschland bis zum Jahr 2030 wurde von der Bundesregierung offen diskutiert. In Freiburg indes wurde der Anti-Wyhl-Kampf begleitet von einem Engagement für Alternativen. Das Öko-Institut wurde 1977 gegründet, aus der ersten Sonnenenergieausstellung 1976 ging Europas größte Umweltmesse – die Freiburger „Öko“ – hervor. Und die meisten Wissenschaftler, Unternehmer und politisch denkenden Menschen, die heute in Südbaden weiterhin gegen die Atomkraft und für die Alternativen kämpfen, führen den Wyhl-Kampf in ihrer Biographie an prominenter Stelle. So stand in Wyhl die Wiege der Ökostadt Freiburg. Und auch die Wiege des Atomausstiegs.

„Hier haben die Grünen eine ihrer Wurzeln“, sagt heute Frank Baum, einst exponierter Aktivist im Wyhler Wald. „In Wyhl begann die Ausstiegsdiskussion, der Widerstand hatte Signalwirkung.“ Denn dem Slogan „Kein AKW in Wyhl“ folgte stets der Zusatz „und auch nicht anderswo“. Proteste in Brokdorf, Wackersdorf, Kalkar und Gorleben, in der Schweiz und selbst in Frankreich schöpften viel Kraft aus der südbadischen „Wyhlisierung“.

Der Wyhl-Kampf aber zog sich lange hin. Noch 1984 hieß es, nach der Landtagswahl im März werde mit dem Bau begonnen. Und auf beiden Seiten erwartete man eine Konfrontation, die härter und verbissener zu werden drohte als die blutigen Auseinandersetzungen um Brokdorf und die Frankfurter Startbahn West. „Tote auf beiden Seiten“, so ein internes Papier der Polizei, seien zu befürchten. Doch der Atomstaat ließ davon ab, gegen seine Bürger zu Felde zu ziehen. Die waren inzwischen vor das Bundesverwaltungsgericht gezogen, und das Urteil wollte man abwarten.

Als das Gericht nach zehnjährigem Rechtsstreit den Fall im Dezember 1985 zugunsten der Landesregierung beendete, wollte diese ihr formales Recht zu bauen nicht mehr wahrnehmen. Sie hatte inzwischen Skrupel, gegen eine Protestbewegung vorzugehen, die mehr Mitglieder hatte als alle Parteien im Bundestag zusammen. Hinzu kam, dass die Angstmache Filbingers und anderer Blackout-Propheten nun offenkundig absurd war: Strom gab es im Lande auch ohne Wyhl mehr als genug.