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Osteuropa beginnt am Alexanderplatz

taz-Serie „Grenzstadt Berlin“ (sechster und letzter Teil): Achtzig Kilometer sind es von Berlin bis zur polnischen Grenze an der Oder. Doch zehn Jahre nach dem Mauerfall sind die polnischen Nachbarn den Berlinern noch immer fremd    ■ Von Uwe Rada

„Achtung auf Gleis 6. Es fährt ein der Eurocity Paderewski aus Warschau.“ Punkt 16.46 Uhr rollt der Zug der polnischen Staatsbahn in den Berliner Ostbahnhof. Auf dem Bahnsteig warten nur wenige mit Blumensträußen auf die Reisenden aus dem Nachbarland. Dabei ist hier gewissermaßen Endstation. Zwar fährt der Eurocity noch weiter bis zum Bahnhof Zoologischer Garten. Das Gros der Reisenden steigt aber am Ostbahnhof aus. Auch Eva Piotrowski aus Poznan. Drei Tage wird sie sich in Berlin aufhalten, für 15 Mark die Stunde putzen gehen und sich nachts mit zwei Bekannten ein Zimmer teilen. Dann fährt sie wieder zurück nach Polen. Arbeitsalltag in der Grenzstadt Berlin.

Drei Bahnsteige weiter erhält auf Gleis 1 Einfahrt der Intercity-Express Friedrich Harkort. Es ist eines der neuen ICE-Doppelpaare, die aus dem Rheinland kommen, der eine aus Bonn, der andere aus Düsseldorf. Am Ostbahnhof im Bezirk Friedrichshain kommen die Rheinländer allerdings nicht an. Nur etwa zehn Reisende steigen um 16.52 aus dem Zug. Selbst zu anderen Zeiten, schätzt ein Schaffner, würden nur etwa 15 Prozent der Fahrgäste am Ostbahnhof aussteigen, der große Rest hat den Zug bereits am Zoologischen Garten in Westberlin verlassen. Bahnhof Zoo und Ostbahnhof – zehn Jahre nach dem Fall der Mauer ist Berlin noch immer eine geteilte Stadt. Nur die Einzugsgebiete in die jeweiligen Stadthälften haben sich erweitert. Am Zoo steigen nun mehr und mehr Rheinländer aus, und am Ostbahnhof trifft sich Polski Berlin, das polnische Berlin.

„Man kann sich denken, dass die Deutschen nach dem 3. Oktober erkennen werden, dass sie einen beträchtlichen Teil ihrer Probleme nicht alleine, sondern nur mit ihren östlichen Nachbarn lösen können“, schrieb der polnische Publizist Adam Krzeminski einen Tag vor der deutschen Vereinigung 1990. „Wir brauchen euch, aber auch ihr braucht uns, falls diese Nachbarschaft keine Reibflächen geben soll.“

Krzeminski höfliche, aber bestimmte Mahnung enstand zu einer Zeit, in der das Verhältnis zwischen Deutschen und Polen auf eine harte Probe gestellt war. So hat etwa der „Polenmarkt“ unweit des Potsdamer Platzes, an dem vor allem an den Wochenenden Tausende von Polen ihre Habseligkeiten verkauften, damals monatelang die Gemüter der Berliner erregt. Nachdem der rot-grüne Senat das Treiben der Händler bereits im Juni 1989 verboten hatte, stand das Thema „Polenmarkt“ nach dem Fall der Mauer erneut auf der Tagesordnung. Die Medien bliesen zum Angriff gegen „Dreck und Gestank“, und die rechten „Republikaner demonstrierten in trauter Eintracht mit der CDU mit Parolen wie „Kommst du aus Polen immerzu, das Gesetz drückt beide Augen zu“. Justiz und Polizei schließlich gingen mit Schnellverfahren, Festnahmen und Einreiseverboten gegen die „illegalen“ Händler vor.

Den Tiefpunkt der kollektiven Polenphobie markierte aber der Beschluss des rot-grünen Senats, die in Berlin zuvor abgeschaffte Visumspflicht durch eine „Einreiseunion“ erneut einzuführen. Im gerade beschworenen „europäischen Haus“ sollten die Polen ihr Aufenthaltsrecht mittels Übernachtungsnachweis und ausreichend Devisen unter Beweis stellen. Kein Wunder, dass Adam Krzeminski am Vorabend der deutschen Einheit resümierte: „Die Mauer ist immer noch da in Europa.“

Ist nun, da auf dem Gelände des einstigen Polenmarktes die schöne, neue Welt des DaimlerChrysler Konzern von andern Märkten kündet, die Mauer, von der Krzeminski sprach, gefallen? Hat sich das Wort des Osteuropaexperten Karl Schlögel, Berlin, die große Karawanserei der neuen Ost-West-Migration, lerne Polnisch und Russisch, bewahrheitet?

Eigentlich sollte es sie ja gar nicht geben, die Grenze zwischen ganz Ost und West, nachdem die deutsch-deutsche Ost-West-Grenze im November 1989 gefallen ist. Die Entscheidung der Daimler-Tochter Debis, aber auch die des Sony-Konzerns, an den Potsdamer Platz zu ziehen, markierte schließlich nicht nur das ambitionierte Vorhaben, der ehemals geteilten Stadt ein neues Zentrum zu bauen, sondern auch die erhoffte wirtschaftliche Zukunft Berlins als Drehscheibe nach Osteuropa mit Leben zu füllen. Ost-West-Wirtschaftsplatz statt Polenmarkt, deutsche Unternehmer in Polen und Rußland, osteuropäische Kreditinstitute am Bankenplatz Berlin, boomende Volkswirtschaften in den ehemals sozialistischen Ländern: Das war so ganz nach dem Geschmack derer, die im fest gefügten Städtesystem Europas nach einer neuen Rolle für die neue und alte Hauptstadt Deutschlands suchten.

Heute sind es freilich nicht die aufstrebenden osteuropäischen Märkte, die Berlin erneut den Nimbus der „westlichsten Stadt des Ostens und der östlichsten Stadt des Westens“ verleihen, sondern Menschen wie Eva Piotrowski. Für die hunderttausend PendlerInnen, für die legalen oder illegalen Arbeiter auf den Baustellen ist Berlin tatsächlich eine Ost-West-Drehscheibe und der Ostbahnhof, von dem die meisten Züge aus Warszawa, Wroclaw oder Kraków einfahren, die nach Westen vorgeschobene Wohlstandsgrenze zwischen dem reichen Deutschland und dem EU-Anwärter Polen.

Eine Wohlstandsgrenze, die auf der anderen Seite der Grenze, östlich der Oder, einen Spiegel in den nach der Vereinigung entstandenen „Polenmärkten“ findet. Zu Hunderttausenden kaufen die Deutschen aus der Grenzregion auf den Märkten von Kostrzyn oder Slubice die billigen Waren aus Polen und tanken ihre Autos voll. Statt des grenzenlosen Kapitalverkehrs herrscht im Grenzland der Oder und Berlins noch immer der Armutshandel. Die Grenze zu Polen, ob staatlich wie an der Oder, oder informell wie am Ostbahnhof, markiert auch zehn Jahre nach dem Mauerfall ein Wohlstandsgefälle, wie es sich weiter östlich, etwa an der Grenze zwischen Polen und der Ukraine wiederholt. Berlin, die westlichste Stadt des Ostens, wird immer östlicher, trotz Vereinigung und Regierungsumzug. Und der EU-Beitritt Polens kennt noch immer kein Datum.

Sie sind noch nicht in Berlin. Vor einem Restaurant in Skwierzyna, knapp 150 Kilometer von Berlin entfernt, sitzen zwei Jugendliche auf dem Rasen und warten auf Kundschaft. Es ist eine diskrete Dienstleistung, die die Jugendlichen anbieten. Sie putzen Autoscheiben und klappen, höflich und diskret, um auf ihre Arbeit hinzuweisen, die Scheibenwischer hoch. Im Unterschied zu den polnischen Jugendlichen und Punks, die es in dieser Branche bis an die Hauptverkehrskreuzungen der deutschen Hauptstadt verschlagen hat, wischen die Jugendlichen in Skwierzyna für eine vorwiegend polnische Kundschaft. Deutsche sieht man östlich der Polenmärkte von Slubice oder Kostrzyn und der grenznahen Tankstellen kaum, Westdeutsche schon gar nicht. Beinahe scheint es, als wäre der östliche Nachbar Polen auf der Berliner Landkarte ein ebenso weißer Fleck, wie es Westberlin auf dem Stadtplan von Berlin, Hauptstadt der DDR, war. Und dies, obwohl die 30.000 in Berlin gemeldeten Polen zusammen mit den 100.000 Pendlern längst die zweitgrößte ausländische Community der Hauptstadt bilden. Nicht nur wirtschaftlich, auch mental ist das deutsch-polnische Verhältnis vom Gegenseitig-gebraucht-Werden, von dem Krzeminsi sprach, noch weit entfernt.

Das liegt vor allem an den Deutschen, denen in Westberlin, aber auch jenen im Osten. War für die Westberliner vor zehn Jahren der „Polenmarkt“ ein willkommener Anlass, die Ressentiments gegen die Polen erneut aufzufrischen, markierten die Demonstrationen der Gewerkschaft Solidarnosc und die Verhängung des Kriegsrechts durch General Jaruzelski in der DDR das Ende der freundschaftlichen Beziehungen zum Nachbarland. Seit 1972 geöffnet, wurde die Oder-Neiße-Friedensgrenze 1981 wieder geschlossen. Das war, schreibt der Publizist Andrzej Stach in seiner Broschüre „Das polnische Berlin“, „die erste offizielle Erlaubnis, der von oben verordneten Liebe zu Polen ein Ende zu setzen und über die 'alles aufkaufenden‘ Nachbarn herzuziehen“. An dieser Fremdheit, die sich wie bei der endgültigen Abschaffung der Visumpflicht im April 1991 mitunter in offenem Hass entlud, hat sich bis heute nichts geändert. Im Gegenteil. Die wirtschaftliche Talfahrt der Hauptstadt hat die innere Grenzziehung gegenüber dem „armen“ Nachbarn sogar noch verstärkt.

Monika Lüders ist seit Juni in Berlin. Ihren Wohnsitz hat die gebürtige Bonnerin, die nun im Innenministerium arbeitet, in Steglitz genommen. „Ostberlin“, sagt sie, „wäre für mich nicht in Frage gekommen.“ Warum, das kann sie nur vage formulieren. „Es ist so weit weg“, sagt sie. Lüders steht mit dieser unbewussten Distanz gegenüber „dem Osten“ nicht alleine. Als hätte es weder den Fall der Mauer noch einen Gedanken an die Erweiterung der Europäischen Union gegeben, ziehen viele die Grenze zwischen dem „zivilisierten“ Westen und dem „fremden“ und „wilden“ Osten noch immer mitten in Berlin.

Auch für Monika Lüders beginnt am Alexanderplatz oder am Ostbahnhof nicht der Bezirk Friedrichshain, sondern die osteuropäische „terra incognita“ mit ihrem ästhetischen Mix aus DDR-Warenhausfassade, Plattenbauten, Imbissbuden und Industriebrachen. Die „Investorengrenze“, die der Stadthistoriker Dieter Hoffmann-Axthelm bereits am Alexanderplatz ausgemacht hat, findet ihre mentale Entsprechung darin, dass den allermeisten Westlern die Toskana noch immer näher ist als das 80 Kilometer entfernte Polen.

Doch es gibt auch Grenzgänger, sowohl in Berlin, diesem westlichen Vorposten der EU-Außengrenze, als auch in Frankfurt/Oder und dem polnischen Grenzstädtchen Slubice, der ehemaligen Dammvorstadt von Frankfurt. Seit einem Jahr hat Slubice mit dem Collegium Polonicum auch einen Sitz an der ansonsten in Frankfurt beheimateten Europa-Universität Viadrina. An dieser Universität lernen Polen und Deutsche gemeinsam und dieses Beispiel macht Schule. Drei Viertel aller Stellen, die im Grenzbereich ausgeschrieben sind, sagt Krzysztof Wojciechowski, der Leiter des Collegium Polonicum, setzten gute Kenntnisse über das Nachbarland voraus.

Hier wird es ernst genommen, das Wort von Adam Kreziminsi, dass man sich gegenseitig brauche, um die gemeinsamen Probleme zu lösen. Gleichwohl weiß auch Wojciechowski um die „Assymetrie der Interessen“. Durch die Freiheit sei auch ans Tageslicht gekommen, dass Deutsche und Polen nichts voneinander wüssten und sich auch nicht füreinander interessierten, sagt er und meint vor allem die Deutschen. Immerhin lernen in Polen eine Million Menschen die deutsche Sprache, während es umgekehrt gerade einmal tausend sind.

In der Grenzstadt Berlin ist das nicht anders. Wer etwa an der Freien Universität im Westberliner Dahlem Osteuropawissenschaften studiert, muss seine Polnischkurse an der Humboldt-Universität belegen. Darüber hinaus droht eine gerade erst eingerichtete bilinguale polnische Schule am Desinteresse der deutschen Eltern zu scheitern. Und in der Grenzregion des Berliner Ostbahnhofs hält es die Bahn AG noch nicht einmal für nötig, die Reisenden aus dem Nachbarland in polnischer Sprache zu begrüßen. Zehn Jahre nach dem Mauerfall sind im europäischen Haus für viele Bewohner immer noch die wichtigsten Räume verschlossen.

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