: Den Heimsuchungen der Geschichte entwischt
■ Helmut Kohl ist wieder da – und macht Wahlkampf für Eberhard Diepgen. Der Ex-Kanzler bemüht die Historie, ekelt sich vor „Herrn Momba“ und findet das „Experiment“ Schröder „einfach fatal“
Ältere Damen recken begeistert die Arme in die Luft, klatschen rhythmisch mit den Händen. Jubel beim Einzug des Stars, Jubel auch, als während des Vorprogramms ein gewisser Klaus Landowsky den Helden des Abends feiert: Nicht allein Robbie Williams tourt dieser Tage durch Deutschland. Eine zweite Ein-Mann-Boygroup enthusiasmiert die – allerdings ergrauten – Massen: Helmut Kohl.
1.500 CDU-Anhänger waren am Dienstagabend ins Palais am Funkturm gepilgert, um dem Popstar Helmut Kohl zu huldigen. Längst vergessen ist die Schmach der vergangenen Bundestagswahl. Damals hielten sich selbst Partei freunde, wenn sie in der Politik noch etwas werden wollten, vom abgewählten Kanzler fern. Jetzt ist Kohl bei den Landesverbänden wieder ein gefragter Redner für den Wahlkampf.
„Wir leben“, ruft der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen, „in einer wirklichen Kohl-Renaissance“. Riesiger Applaus. Auch den Einheitskanzler selbst haben die jüngsten Wahlen in der Überzeugung berstärkt, dass sich die Deutschen vor einem Jahr nur verwählt hätten. „Die Leute glaubten, man müsste das Experiment machen“, sagt Kohl, aber „das Ergebnis ist doch einfach fatal.“
Alles ist wie immer: Das selbstgefällige Grinsen; die sackartige Anzugjacke, die den massiven Leib bedeckt; die fleischigen Patschhände, mit denen Kohl dem Bürgermeister Applaus spendet. Als das Publikum am Ende der Rede noch einmal stehend Ovationen spendet, zum fünften Mal an diesem Abend, da ertönen sogar „Helmut, Helmut“-Rufe. Und in der hinteren rechten Ecke schwenkt die Junge Union Neukölln die Deutschlandfahne.
Und natürlich redet Kohl nicht wie Diepgen über Bezirks- oder Verwaltungsreform. Nein, die „Berlinerinnen und Berliner“ sollen die Union wählen, weil „wir in den Heimsuchungen dieses Jahrhunderts noch einmal davongekommen sind“. Keine Frage, dass der Ex-Kanzler wieder ausgiebig über die „Gechichte“ doziert.
Auch der Rentendebatte verleiht er eine historische Dimension. Schließlich habe jene Generation, der die SPD jetzt die Rentenerhöhung kürzen will, „die zehn besten Jahre im Krieg verbracht“ – und deshalb „nicht darüber diskutiert: Geh ich in die Diskothek oder auf den Fußballplatz“. Gleichwohl gehöre die junge Generation, die Kohl „an der Loreley oder an der Spanischen Treppe“ beobachtet hat, „zum Besten, was Europa hervorgebracht hat – was mich nicht wundert, sie stammt ja von unserer Generation ab“. Die ergrauten Damen und Herren applaudieren begeistert.
Historische Gründe hat auch Kohls Abneigung gegen „Herrn Momba“, wie er Walter Momper beharrlich nennt. „Dass ein Mann wie Herr Momba hier kandidiert“, sagt Kohl, „macht mich eigentlich sprachlos.“ Schließlich habe der Mann mit dem roten Schal die Einheit „in Wahrheit gar nicht gewollt“.
Bester Laune lässt der Oggersheimer den Kohl-Kult über sich ergehen, der sich – so fürchtet manch ein Reformer in der Union – für die Erneuerung der Partei noch als fatal erweisen könnte. „Im politischen Leben ist es wie im Privaten“, sagt Kohl, „es gibt Hochs und es gibt Tiefs. Und das genießt man.“ Ralph Bollmann
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