Schwerkranke zu Kriminellen

Natürliche Cannabisarzneien sind nicht nur viel preiswerter als synthetisch erzeugtes THC, sondern könnten auch von Apotheken hergestellt werden  ■   Von Ole Schulz

Vor neun Jahren erlitt der damals 17jährige Volker W. einen schweren Autounfall, der sein Leben verändern sollte: Seitdem ist er querschnittsgelähmt und leidet unter spastischen Anfällen. Jahrelang wurde er mit starken Medikamenten wie Valeron behandelt. Diese Hammerarzneien legten ihn meist völlig lahm – manchmal schlief er von einer Sekunde zur nächsten einfach ein. Dann entdeckte Volker die entspannende Wirkung von Marihuana.

THC-Präparat Marinol ist seit 1998 zugelassen

Als Volker davon hörte, dass seit Anfang 1998 das US-amerikanische THC-Präparat Marinol verschrieben werden darf, beantragte er bei der AOK eine Übernahme der Kosten. Doch der Medizinische Dienst der Kasse lehnte den Antrag mit der lapidaren Begründung ab, dass sich in der Regel „für diese Symptomatik Behandlungsstrategien finden, ohne dass Betäubungsmittel eingesetzt werden müssen“. Volker, der jahrelang alle möglichen Opiatabkömmlinge ausprobiert hatte, konnte es kaum glauben: „Sarkastischer kann man mit einem Schmerzpatienten nicht mehr umgehen.“ Nur aufgrund des Engagements eines AOK-Mitarbeiters kam er doch noch in den Genuss von Marinol.

Es blieb allerdings bei einer einmaligen Verschreibung: Denn nun bekam Volkers Hausarzt Angst, dass er bei der Anwendung von Marinol, das zwar aus den USA eingeführt werden darf, aber in Deutschland nicht zugelassen ist, die Konsequenzen einer möglicherweise fehlerhaften Behandlung selbst zu tragen hätte.

Volker M. ist kein Einzelfall. Viele Aids- und Krebskranke, Multiple-Sklerose-Patienten und Spastiker nehmen inzwischen Cannabis, um ihre Leiden zu lindern. Doch fast immer müssen sie sich trotz aller Gefahren auf dem Schwarzmarkt versorgen. Denn das synthetische Marinol ist in Deutschland kaum erhältlich.

Als die Drogenbauftragte der Bundesregierung, Christa Nickels, ihr Amt antrat, sahen das viele als Hoffnungsschimmer. Denn die Bündnisgrüne hält den medizinischen Einsatz von Cannabis für „sinnvoll“ – viel erreicht hat sie aber bisher nicht. Im März überreichte die Arbeitsgruppe „Cannabis als Medizin“ Nickels eine Unterschriftenliste, in der sich Patienten, medizinische Gruppen und die Aids-Hilfen für die Zulassung von natürlichen Cannabiserzeugnissen aussprechen – sie sind rund fünzigmal billiger als Marinol.

Rezeptur-Vorschriften werden vorbereitet

Immerhin: Kurz darauf bat das Gesundheitsministerium die Bundesvereinigung der Apothekerverbände, Vorschriften für standardisierte Ausgangsstoffe und Rezepturen zu entwickeln, auf deren Grundlage Apotheker dann ein Cannabispräparat herstellen könnten. Das Ministerium wählte diesen Weg, weil die Zulassung einer industriell gefertigten Cannabisarznei in Deutschland zur Zeit nicht zu erwarten ist. Der Grund: Ein aus der Hanfpflanze gewonnenes Extrakt ist nicht patentierbar – und würde der Pharmaindustrie daher kaum Gewinne bringen.

In einer Apotheke in Frankfurt-Bockenheim ist man schon weiter: Aus Nutzhanf wird ein Ausgangsstoff hergestellt, der in der Apotheke zu einem THC-haltigen Präparat umgewandelt wird. Patienten, die ein Rezept vom Arzt haben, können das Mittel für ein Viertel des Preises von Marinol erwerben. Zugleich ist Anfang September am Berliner Institut für onkologische und immunologische Forschung endlich die erste klinische Cannabis-Studie angelaufen: Dabei soll an Krebskranken getestet werden, ob sich ein Cannabis-Extrakt und synthetisch erzeugtes THC unterschiedlich auf Appetit, Körpergewicht und Stimmungslage der Probanden auswirken. Krebskranke, die noch an der Berliner Cannabis-Studie teilnehmen wollen, können sich unter Telefon (0 30) 3 15 74 40 melden.