piwik no script img

Himmlische Monstren

Vom Diamant zum Delta-Drachen: Die Zeiten, in denen Konstruktionen aus Holz und Papier am Himmel flogen, sind lange vorbei  ■ Von Jochen Brandt

Wolf Wohlert ist Drachenbauer, seit 17 Jahren ist er im Geschäft. Damals machte der Hamburger sein Hobby zum Beruf und konstruierte die ersten Drachen selbst. In seiner Werkstatt sitzt er zwischen Bergen aus rotem Stoff. Vom Boden ist kaum etwas zu sehen. „Die aerodynamischen Berechnungen sind für mich kein Problem“ – Wohlert hat Flugzeugmechaniker gelernt. Gerade näht er an einem Spezialauftrag. „Ich soll mal wieder einen meiner Kraken bauen.“ Allein die Arme des „Octopus“ sind 20 Meter lang, 370 Quadratmeter des roten Stoffes gehen für den riesigen Drachen drauf.

„Im Prinzip kann man jede Form zum Fliegen kriegen“, sagt Tom Klar. Wie Wohlert arbeitet er im Hamburger Drachenladen „Wolkenstürmer“. „Es gibt unendlich viele Varianten“, erklärt er. „Die klassische Form ist der Diamant – den hat wohl jeder als Kind schon mal gebaut.“ Die lenkbaren Delta-Drachen, die es heute am häufigsten gibt, sind jünger: „Der NASA-Ingenieur Francis Rogallo hat 1948 das erste fliegenden Dreieck gebaut“, sagt Raimund Dorow. Auch er hat seinen Drachenladen „Luftpirat“ in Hamburg.

„Vor zwölf Jahren fing ich mit der Drachenfliegerei an“, erinnert sich Dorow. Seitdem habe sich eine Menge getan. „Anfang der 90er gab es einen richtigen Boom.“ Seitdem rankt eine kleine Industrie um die fliegenden Ungeheuer. „Früher haben wir viele Materialen von anderen Sportarten übernommen“, erklärt Dorow. Heute werden das hauchfeine Segeltuch und die Stangen aus Kohlefaser speziell für den Drachensport produziert.

In Sachen Drachen ist Dorow ein Experte. Als Wettkampfleiter hilft er bei den Deutschen Meisterschaften, und im Oktober muss er als Sachverständiger an ein Münchener Gericht. „Ich soll klären, ob der Wind Schuld an einem Unfall war oder der Lenker des Drachen selbst.“

„Wahrscheinlich haben die Chinesen den Drachen vor rund 2000 Jahren erfunden“, vermutet Dorow. Später sei der Flieger dann mit Seeleuten nach Europa gekommen. „Marco Polo hatte mit Drachen zu tun und Leonardo da Vinci auch.“ Dabei waren die Drachen im Laufe ihrer Geschichte längst nicht nur Sportgerät: „Die Chinesen haben sie wohl für spirituelle Zwecke benutzt“, erklärt Luftpirat Dorow. Später wurden Drachen auch vom Militär gebraucht, als fliegender Ausguck oder für Schießübungen. Sogar Menschen in Seenot soll man mit ihnen gerettet haben, erzählt Dorow. Und 1752 wies Benjamin Franklin mit einem Drachen nach, dass Blitze elektrische Entladungen sind. Auch in Hamburg wurden die Flieger an der Leine eingesetzt. „Um die Jahrhundertwende hatte die Hamburger Seewetterwarte sogar eine eigene Abteilung für Drachenbau“, weiß Dorow zu berichten.

Die Zeiten, in denen Konstruktionen aus Seide, Holz und Papier am Himmel flogen, sind lange vorbei. Heute ziehen High-Tech-Geräte ihre Bahnen. Es gibt Ausführungen für jede Windstärke. Raimund Dorow nimmt ein besonders leichtes Modell in die Hand: „Den fliege ich auch, wenn gar kein Wind weht.“ Wettkämpfe werden durchgeführt, und die Lenker am Boden müssen oft vollen Einsatz zeigen: „Drachenfliegen ist auch Kraftsport.“ Die Zugkraft der Drachen wird seit einigen Jahren sogar zum Fahren genutzt. In dreirädrigen „Buggies“ rasen Fahrer von Drachen gezogen heute die Strände entlang. „Der große Renner zurzeit ist aber ,Kite-Surfing'“, erzählt Tom Klar. Ein Surfbrett ohne Segel, stattdessen hängt ein Drache dran.

Anfänger, meinen die Verkäufer Klar und Dorow, sollten zwischen 30 und 150 Mark in einen Drachen investieren. „Das Ding für 9,98 vom Supermarkt fliegt zwar auch. Die Frage ist nur, wie lange“, meint Dorow.

Ein paar gute Plätze zum Fliegen gibt es in Hamburg auch. „Auf den Elbdeichen stehen am Wochenende immer viele“, sagt Wolkenstürmer Klar. Außerdem sei das Industriegebiet in Allermöhe gut geeignet. „Die Hamburger Parks allerdings sind schlecht“, meint Dorow. Zum einen gebe es dort zu viele Bäume. „Außerdem liegt der Stadpark in der Einlfugschneise zum Flughafen.“ Und da sind Drachen ohnehin verboten.

An diesem Wochenende wird am Südstrand der Insel Fehmarn ein Drachenfest gefeiert. Dort können Kinder Drachen basteln, und die von den Fliegern gezogenen „Buggies“ treten zu einer Regatta an. Außerdem wird der Ostsee-Cup im Drachenfliegen ausgetragen. Beginn ist an beiden Tagen jeweils um 11 Uhr.

Am Sonntag ist darüber hinaus noch ein Drachenfest in Bargfeld-Stegen. Zwischen 11 und 17 Uhr werden auf der Wagnerschen Koppel die Drachen in den Himmel steigen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen