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PickpocketsMetropolen als Wohnzimmer

■ Virtuelles Leben statt öffentlicher Raum? Bücher zur Stadtkultur

„In dem Maße, in dem sich unser Leben in die virtuelle Realität verlagert, im Videofilm und in der Computeranimation, lösen wir uns von der materiellen Trägheit der historischen Stadt. Im gleichen Maße ziehen wir uns aus der gesellschaftlichen Welt zurück in unsere private Bilderwelt. (...) Damit stirbt die Stadt. Denn was ist die europäische Stadt anderes als gesellschaftliche Form. Ein scheinbar paradoxes Phänomen: der Ausdruck eines Zusammengehörigkeitsgefühls unabhängiger Bürger.“ Vor dem Hintergrund des Umbaus Berlins fand ein Kolloquium zum Thema „Stadtgesellschaft“ statt, dessen Beiträge jetzt als Taschenbuch vorliegen. Der Architekt Hans Kollhoff hat dort die zitierte These vom Tod der Stadt als öffentlichem Raum vorgetragen.

Claudia Wahjudis „Berliner Kulturentwürfe“ mit dem Titel „Metroloops“ sehen demgegenüber gerade im Verfall gesellschaftlicher Verbindlichkeiten und auch in der Entstehung neuer Medienvernetzungen eine potenzielle Ausweitung des kulturellen Raums. Das Buch sucht und findet in einer Mischung aus Essay und Stadtführer jene Stätten der Stadt, „die das soziale Netz stabilisieren und Kommunikation ermöglichen, Orte, an denen sich Kultur, Politisches und Privates durchkreuzen“; Galerien nämlich, Kunstbars, Lounges und Clubs.

Wenn jedoch die These Hans Kollhoffs zutrifft, würde die Stadt in der Tat als jener örtliche Fokus obsolet, in dem sich Bewusstseins- und Wahrnehmungsweisen der Gegenwart bilden. Nun war es aber gerade dies urbane „Nervenleben“, das die Großstadtkultur im 20. Jahrhundert zu einem der zentralen Sujets von Kunst und Literatur gemacht hat. So malte beispielsweise Fernand Léger im Jahre 1919 sein berühmtes Bild „La Ville“. In der kunsthistorischen Reihe „kunststück“ analysiert Stanislaus von Moos das Gemälde auch unter Aspekten der gegenwärtigen Debatten über Urbanität und Stadtkultur.

Während Léger Pariser Impressionen zu seinem Bild montierte, flanierte Léon-Paul Fargue durch die Stadt und sammelte Eindrücke für sein Buch „Der Wanderer durch Paris“. Die Metropole erscheint hier noch als das große Wohnzimmer ihrer Bewohner, und die Plätze in den Straßencafés werden zu Theaterlogen.

Dies städtische Geborgenheitsgefühl vermittelt Paris immer noch, jedenfalls einem überzeugten Stadtbewohner und Flaneur wie Paul Nizon, bei dem es über einen Abend im Straßencafé einmal heißt: „Wir waren glücklich, wir waren im Viertel, wir waren in Paris, wir waren daheim, wir mochten noch nicht in die Wohnung zurückkehren.“ Nizons Text findet sich in der Anthologie „Paris liegt an der Seine. Bilder einer Stadt“, die Susanne Gretter herausgegeben hat. Der Band enthält auch Auszüge aus Etel Adnans Buch „Paris, Paris“. „Auf dieser Stadt“, schreibt die Autorin, „lastet eine so starke Schwerkraft, dass man auf einem Stuhl sitzen kann und sich Jahre später immer noch sitzend und alternd wiederfinden kann.“

Neben Paris ist vermutlich Venedig die Stadt, deren Atmosphäre mehr als andere Künstler und Schriftsteller angezogen und inspiriert hat. In der Architektur Venedigs hat der amerikanische Romancier Harold Brodkey gegen Ende seines Lebens eine Art Seelenlandschaft gefunden; die Lagunenstadt als „state of mind“. Unter dem Titel „Venedig“ ist jetzt ein Buch erschienen, das Passagen aus verschiedenen Werken Brodkeys versammelt, die der Stadt gewidmet sind.

Eine Literarisierung Venedigs im radikalsten Sinn vollführt Brodkey, wenn er das Schriftbild des Stadtnamens zum Stadtbild verwandelt: „Venice: Im Englischen wirkt der Name der Stadt visuell mimetisch, das V erinnert an Wellen, waves, ist aber, auf den Kopf gestellt, auch das Dach eines Campanile oder ein gotischer Bogen; und das e, n und c beschwören die byzantinischen Kuppeln herauf, das i den gotischen Brückenpfeiler oder den Schaft des Campanile.“ Klaus Modick

Michael Mönninger (Hg.): „Stadtgesellschaft“. Edition Suhrkamp 1999. 16,80 DM Claudia Wahjudi: „Metroloops“. Ullstein 1999. 22 DM Stanislaus von Moos: Fernand Léger „La Ville“. Fischer 1999. 19,90 DM Susanne Gretter (Hg.): „Paris liegt an der Seine“. Suhrkamp 1999. 10 DM Léon-Paul Fargue: „Der Wanderer durch Paris“. Suhrkamp 1999. 15 DM Etel Adnan: „Paris, Paris“. Suhrkamp 1999. 15 DM Harold Brodkey: „Venedig“. Rororo 1998. 14,90 DM

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