■ Osttimors Hauptstadt Dili, eine Woche nach dem Einmarsch der UN-Soldaten: Nur zögerlich und nur bei Tag kehren die Flüchtlinge zurück, um nach Überlebenden zu fahnden. Diejenigen aber, die sie vertrieben, sind schon wieder auf freiem Fuß Aus Dili Jutta Lietsch: Keiner sucht die Toten nachts
An der Balide-Straße in Dili, neben einem kleinen Restaurant, liegt ein bemerkenswertes Häuschen: Seine Vorderfront zieren großflächig Jesus- und Marienbilder. Doch das ist es nicht, was die Männer zeigen wollen, die uns eben auf der Straße angesprochen haben: „Kommen Sie mit, hier liegen zwei Tote!“
Dunkelbraune Blutflecken bedecken den Betonboden am Eingang. „Hier“, sagen die Männer, „haben die Milizen unsere Nachbarn Geronimo und Maricoli Maubere erschossen.“ Als sie die Tür aufstoßen, zeigt sich ein schauriges Bild: Auf rußgeschwärztem Boden liegen, verkohlt und fast zerborsten, die Skelette der beiden Toten.
Unsere Begleiter berichten, was hier an jenem 4. September geschah – dem Tag, als die UNO das Ergebnis des Referendums über die Zukunft Osttimors verkündete: Plötzlich erschien eine Gruppe proindonesischer Milizen, voller Wut über ihre Niederlage. Sie richteten ihre Gewehre auf die beiden Männer, die als Anhänger der Unabhängigkeit bekannt waren, und drückten ab. Danach zerrten sie die Leichen über die Schwelle, übergossen sie mit Benzin und zündeten sie an.
Der 39-jährige Geronimo und der 40-jährige Maricoli Maubere zählen zu den vielen Opfern des Terrors in Osttimor, dessen Ende trotz der Anwesenheit der Friedenstruppen noch lange nicht in Sicht ist. Immer dichter werden die Gerüchte in Dili, dass sich die Milizen sammeln, um den Kampf gegen die ausländischen Soldaten aufzunehmen.
Wie viele Menschen in den vergangenen vier Wochen allein in der Haupstadt Dili ermordet wurden, ist noch nicht abzuschätzen. Von den Überlebenden, die sich in die Berge geflüchtet haben, sind nur wenige zurückgekehrt. Und weil die Internationalen Friedenstruppen in Osttimor, die Interfet, gut eine Woche nach ihrer Ankunft bislang nur Teile Dilis sowie den Flughafen der zweitgrößten Stadt Baucau gesichert haben, ist wenig über die Situation im Rest des Landes bekannt.
Nur quälend langsam treffen Nachrichten aus anderen Ortschaften ein. Erschüttert berichtet Sanjay Sojwal von der internationalen Hilfsorganisation „World Vision“, was er beim ersten Hubschrauberflug der UNO über die östliche Hälfte von Osttimor sah: „Überall brennen Dörfer, fast alle größeren Orte sind bis auf die Grundmauern zerstört.“
„Nicht ein einziges Mal habe ich gesehen, dass jemand auf dem Feld arbeitet“, sagt der Helfer. „Vieh ist nirgends zu entdecken. Obwohl ich schon auf Schlimmes gefasst war, hat mich überrascht, wie weitgehend und wie systematisch die Zerstörung ist.“
Aus der Umgebung von Dili wagen sich allerdings inzwischen immer wieder Flüchtlinge für einen kurzen Abstecher hinunter in die Stadt, um vor Sonnenuntergang in ihre Verstecke zurückzukehren. Beim Roten Kreuz oder bei den ausländischen Soldaten bitten sie um Reis und Medikamente. Und sie fragen, ob einer ihre Geschwister, ihre Eltern oder ihre Kinder gesehen hat. Dann laufen sie durch die verlassenen Straßen, um zu schauen, ob ihr Haus noch steht.
Dabei finden sie die Toten. So wie Teresa Florinda, Mutter von acht Kindern, die fassungslos vor der völlig niedergebrannten Ruine ihrer Wohnung steht. Aus dem Brunnenschacht dringt schrecklicher Verwesungsgeruch, ein aufgequollener Rücken ist zu sehen. Teresa und die Nachbarn kennen den Namen des Ermordeten nicht, wissen nicht, wie und wann er umgebracht wurde und wer ihn in den schmalen Schacht gestopft hat.
Fast alle Häuser der Nachbarschaft hier im Norden sind völlig zerstört – bis auf eines: das kleine blau gestrichene Steinhaus des lokalen Milizenführers Marcelino. Es ist kaum beschädigt, die Marienbilder hängen noch an der Wand, auf dem Boden liegen ein kaputter Fernseher, etwas Kleidung, ein paar zerbrochene Möbel. „BMP“ steht mit roter Farbe auf der Fassade geschrieben. Das ist das Kürzel für „Besi Merah Putih“, der Name der Eisern-Rot-Weiß-Miliz.
„Er war es, der die Häuser angezündet hat“, sagen die Anwohner über Marcelino. „Dafür wurde er bezahlt.“ Geld ist die häufigste Erklärung, warum sich Bewohner von Dili von den indonesischen Militärs als Milizen rekrutieren ließen. Dokumente und Bankauszüge, die in den letzten Tagen in mehreren verlassenen Milizengebäuden gefunden wurden, bestätigen mittlerweile, dass die Hintermänner dieser bewaffneten Banden über üppige Finanzen verfügten. Sie werden im Militär, unter lokalen Politikern und in rechten Kreisen Jakartas vermutet.
Doch Geld allein reicht nicht aus, um die Wut und das Ausmaß der Zerstörung zu erklären. Hinzu kommt: Nicht nur die Hochburg der Unabhängigkeitsbewegung, der Vorort Becora, ist in Flammen aufgegangen. Auch bekannte Milizenviertel wurden niedergebrannt. Warum ging die Zentrale der indonesischen Regierungspartei Golkar in Flammen auf, warum blieb aber die Zentrale des „Nationalen Widerstandsrates für Osttimor“ heil? Niemand kann derzeit diese Fragen beantworten.
Im weitläufigen Gelände des St. Josef-Seminars leben seit vier Wochen über 100 Flüchtlinge. „Milizen haben uns gerettet“, sagt ein Jesuitenpater ironisch. Seine Erklärung warum den Kranken und Alten, den Müttern und Kindern am Ende doch nichts angetan wurde: „Bei uns sind auch viele Verwandte von Milizen untergeschlüpft.“ Freund und Feind, Unabhängigkeitsbefürworter und Unabhängigkeitsgegner, sind in der kleinen Gesellschaft von Dili miteinander verwandt oder verschwägert.
Am Tor des Salesianerinnen-Konvents einige hundert Meter weiter herrscht plötzlich Aufregung: Drei Männer in abgerissener Kleidung bitten die Nonnen um Reis. Sie sehen aus wie all die anderen Bittsteller, einer von ihnen trägt allerdings eine in der tropischen Hitze verwegene Pelzmütze. Als Schwester Paula ihnen einen Beutel mit Lebensmitteln hinausreicht, ruft einer, der im Konvent Schutz gefunden hat: „Die gehören zu den Milizen! Sie haben meine Wohnung geplündert.“
Schnell laufen die Flüchtlinge zusammen, die Nonnen versuchen zu beschwichtigen. Die drei Männer ziehen mürrisch davon. Eine wachsende Gruppe aufgeregter Passanten läuft ihnen hinterher. Sie fangen die drei, schlagen einen von ihnen nieder. Doch bevor sie ihn totprügeln, besinnen sie sich und bringen die drei zu den Nonnen zurück.
Eine Gruppe schwer bewaffneter australischer Soldaten steht zunächst hilflos dabei. Dann fesseln sie die drei Männer, durchsuchen sie und führen sie ab. Die Festnahme wird am Nachmittag von Interfet-Sprecher Nick Welch als Beispiel für den Erfolg einer großen „Säuberungsaktion“ gegen Milizen in Dili gemeldet.
Immer mehr ausländische Soldaten treffen in diesen Tagen in der Hauptstadt ein. Panzerwagen rollen durch die Straßen, Helikopter dröhnen über den Köpfen. Wichtigste Aufgabe der ausländischen UNO-Soldaten ist es, Haus um Haus nach Milizen und Waffen zu durchsuchen – eine Aktion, die vor allem den indonesischen Militärs und den Milizen Angst einjagen soll. „Außerdem wollen wir den Flüchtlingen in den Bergen zeigen, dass wir die Stadt jetzt kontrollieren und dass sie ruhig wieder zurückkommen können“, sagt Interfet-Sprecher Welch.
Doch diese militärischen Aktionen können kaum darüber hinwegtäuschen, wie schwach die Position der multinationalen Truppen in Osttimor noch ist – obwohl die UNO ihnen erlaubt hat, notfalls auch Waffengewalt anzuwenden. Inzwischen wird auch immer klarer, wie heikel die ganze Mission ist – politisch wie militärisch. Offiziell soll die Interfet mit den indonesischen Truppen zusammenarbeiten, was sich allerdings mittlerweile als absurde Fiktion herausgestellt hat: Niemand zweifelt daran, dass die Mörder und Brandstifter in Teilen der indonesischen Truppe selbst zu suchen sind.
Selbst wenn, wie geplant, schließlich 8.000 ausländische Soldaten in Osttimor stationiert sein werden, dürfte dies nach Ansicht von Interfet-Offizieren keineswegs ausreichen, um mehr als Dili und seine Umgebung zu sichern. Den UNO-Soldaten steckt die ständige Angst in den Knochen, dass es zu einem Schusswechsel mit indonesischen Soldaten oder Milizen kommen könnte: „Wenn der erste Interfet-Soldat stirbt, wird es einen Aufschrei in dessen Heimat geben. Sie werden verlangen, unsere Jungs nach Hause zu holen“, prophezeit ein Diplomat in Dili. „Wenn aber ein Indonesier stirbt, könnte es zu einem nationalistischen Aufruhr in Jakarta kommen, dessen Folgen unabsehbar sind.“
Ein anderes Problem: Weil bislang nicht geregelt ist, was mit den verhafteten Milizen geschehen soll, lassen die Soldaten ihre Häftlinge stillschweigend wieder laufen. Nur der Chef einer der Milizen, Caetano da Silva, ist noch in Haft, und die Mitarbeiter von Interfet und UNO wissen nicht, wie lange sie ihn noch festhalten dürfen. Anders als für Bosnien oder das Kosovo gibt es noch kein internationales Tribunal in Den Haag, an das die mutmaßlichen Verbrecher aus Osttimor überstellt werden könnten.
„Please forgive me“, steht in englischer Sprache in riesigen Lettern auf der Kaikoli-Straße geschrieben. Kein Laut ist in der Straße zu hören, kein Schritt, keine Stimme. Dili bleibt traurig, unberechenbar, gefährlich und absurd: Als gestern vormittag wieder Militärbaracken in Flammen aufgingen, erklärt Indonesiens Militärkommandant für die Region, Kiki Syahnakri, er habe nun die militärische Verantwortung für Osttimor offiziell an die multinationale Truppe übergeben. Der Interfet-Chef, der australische General Peter Cosgrove, reagiert erstaunt: Nein, sagt er, die Indonesier seien nach wie vor mitverantwortlich für die Sicherheit Osttimors. Eine Übergabe habe überhaupt nicht stattgefunden.
Derweil brennt es weiter in Dili. Nicht nur Militärkasernen, auch das alte, noch von den Portugiesen erbaute Gästehaus des Gouverneurs, in dem auch Ex-Präsident Suharto abzusteigen pflegte, wird ebenso abgefackelt wie die Bildungsbehörde, die Bank Danamon, ein Teil der Polizeischule. „Oh Gott“, sagt einer der Ärzte der internationalen Gruppe „Mediziner der Welt“, als eine Rauchwolke aus der Richtung des Militärkrankenhauses am Hang der Berge emporsteigt, „nicht auch noch das Krankenhaus.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen