: „Ich will einfach mal raus“
■ Die allein erziehende Elke M. bekommt für ihre vier Kinder keine Mark vom höheren Kindergeld. Das Sozialamt zieht das Geld von Leistungen ab
Aus der Altstadt Halle musste Elke M. 1995 wegziehen, da der in den realsozialistischen Jahren heruntergekommene Stadtkern saniert wurde. Heute sitzt die ehemalige Lagerarbeiterin für Chemie draußen in der Trabantenstadt Halle/Neustadt wie in einer Falle. Denn Elke M., Alleinerziehende mit vier Kindern, hat nicht genug Geld, um in den Landkreis zu ziehen. Sie würde gern in die Nähe einer Freundin ziehen. Doch auch das höhere Kindergeld wird dabei nicht helfen.
Formell stehen Elke M. 1.150 Mark Kindergeld pro Monat zu. Gutes Geld – von dem sie aber keinen Pfennig sieht. Das Sozialamt nämlich zählt ihre Ansprüche aus der Sozialhilfe zusammen (3.167,80 Mark), zieht dann die „Einkünfte“ der Arbeitslosen ab – dazu zählen Kindergeld, Unterhaltsvorschüsse und ein pauschaliertes Wohngeld (2.256 Mark). Ausbezahlt wird nur die Differenz von 911.,80 Mark.
Was geschieht, wenn das Kindergeld erhöht wird? Dann greift die komplizierte Logik von Sozialhilfe und Kindergeld: Der Abzugsbetrag steigt um das für zwei Kinder angehobene Kindergeld, also um 40 Mark – und die auszahlbare Differenz sinkt auf 871,80 Mark. Das Sozialamt, also die Stadt Halle, und nicht etwa Elke M. schreibt sich den Anstieg des Kindergeldes gut.
Die 42-jährige Elke M. und ihre vier Kinder aber müssen, trotz Erhöhung des Kindergeldes, weiter mit 3.167,80 Mark über die Runden kommen. Kleider kauft sie beim Vietnamesen, weil der Billigangebote hat. Wenn Tochter Jaqueline (16) an der Abschlussfahrt ihrer Klasse nach Tschechien teilnehmen will, muss Elke M. mit dem Kopf schütteln. 600 Mark Fahrtgeld, das schafft sie nicht. „Ich will einfach mal raus“, sagt Elke M. „Es muss gar nicht Mallorca sein, die Sächsische Schweiz würde es auch tun.“ Aber auch daraus wird nichts.
Die Sozialhilfe sorgt nur für den Unterhalt. Nicht weniger, nicht mehr. Eine Situation, von der gerade Frauen aus Ostdeutschland erfahren, wie schmerzlich sie sein kann. Die Einstellung zum Kind war in der DDR eine andere als in Westdeutschland. Es gab Krippe, Kindergärten und ein bezahltes Babyjahr. Die Beschäftigungsquote von Frauen lag bei über 90 Prozent. Frau konnte ein Kind finanzieren – auch ohne Mann. Heute führt diese Einstellung beinahe unweigerlich in die Sozialhilfe. „Den Frauen hier wird erst langsam bewusst, dass Kinder oft mit Armut gleichzusetzen sind“, sagt Susanne Westphal, Familienbearterin bei Pro Familia in Halle.
Westphal kennt zwei Gruppen von Frauen, die unter der neuen Situation leiden: DDR-Frauen mit mehreren Kindern, die in der Bundesrepublik feststellen, „dass sie gesellschaftlich in die Ecke gedrängt werden“. Weil ihre Jobmöglichkeiten von früher weg sind, weil sie konsummäßig nicht mithalten können. Und junge Frauen, die unbekümmert Ja zum Kind sagen. Früher ermöglichte ein Kind oft, das Elternhaus zu verlassen. Geht die Partnerschaft heute kaputt, sind die Frauen auf Sozialhilfe angewiesen.
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