„Wir hätten auch geschossen“

Berliner Sonderabteilung „DDR-Regierungs- und Vereinigungskriminalität“ wird aufgelöst. Die einen werfen der Stelle „Siegerjustiz“ vor, anderen waren die Strafen zu niedrig  ■   Von Plutonia Plarre

In den Gängen türmen sich Akten und Umzugskartons. Die Wachmeister sind seit Tagen dabei, die Papierberge mit ihren Handkarren abzufahren. Leitz-Ordner mit dem Vermerk „historisch wertvoll“ kommen ins Archiv. Der Rest wandert in den Reißwolf. 10 Jahre nach dem Mauerfall ist die strafrechtliche Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit weitestgehend beendet. Die in Berlin eigens dafür eingerichtete Sonderabteilung der Staatsanwaltschaft für „DDR-Regierungs- und Vereinigungskriminalität“ wird zum 1. Oktober aufgelöst.

Als Dank für sein Engagement wird der 62-jährige Chefankläger der Behörde, Generalstaatsanwalt Christoph Schaefgen, heute vom Berliner Justizsenator zum Leiter der neuen „Zentralstelle zur Unterstützung der Aufarbeitung des DDR-Unrechts“ ernannt. Seine ehemaligen Mitarbeiter müssen sich nun wieder mit Alltagskriminellen herumschlagen und bekommen nicht mal ein eigenes Büro.

Seit der Deutschen Einheit wird ermittelt. 23.000 Verfahren wurden seitdem eingeleitet, aber nur gegen rund 1.000 Beschuldigte konnte Anklage erhoben werden. 300 Urteile sind inzwischen rechtskräftig, die meisten wegen der Todesschüsse an der Mauer sowie wegen vereinigungsbedingter Wirtschaftskriminalität.

„Wir haben getan, was wir konnten“, zieht Generalstaatsanwalt Schaefgen Bilanz. Die Zahl der Urteile seien zwar nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Aber es sei immerhin gelungen, „auch die Befehlsgeber von ganz oben zur Verantwortung zu ziehen“.

Der damalige Staatsratsvorsitzende der DDR, Erich Honecker, konnte für die Todesschüsse an der Mauer nicht mehr belangt werden. Er war wegen seines Krebsleidens verhandlungsunfähig. Sein Zögling Egon Krenz gehört jedoch zu den insgesamt 32 Angeklagten, die zu Haftstrafen verurteilt worden sind. Seine sechseinhalb Jahre Knast hat Krenz allerdings noch nicht angetreten – der Bundesgerichtshof (BGH) wird erst Ende Oktober über seine Revision entscheiden.

Die Meinung über die Prozesse gehen weit auseinander. Ein Vorwurf wird der Justiz immer wieder gemacht: Sie habe mit der Verfolgung des DDR-Unrechts die früheren Versäumnisse bei der justiziellen Aufarbeitung der ungleich schlimmeren NS-Gewaltverbrechen auszugleichen versucht. „Es musste diesmal gründlicher gemacht werden“, gibt Schaefgen zu. „Aber das bedeutet nicht, dass die Versäumnisse von damals durch Überhärte kompensiert worden sind.“ Die Höhe der Urteile und die große Zahl der Einstellungen bewiesen, dass die Justiz mit Augenmaß gehandelt habe.

Die Opferverbände „der SED-Dikatur“ werfen der Justiz vor, die Funktionsträger der DDR mit Samthandschuhen angefasst zu haben. „Bei den Opfern hat die Rechtsprechung tiefste Verbitterung hinterlassen“, sagt der stellvertretende Berliner Landesbeauftragte für die Unterlagen der Staatssicherheit, Falco Werkentin. Wer einen Menschen totfahre, komme ins Gefängnis, wer indes Todesurteile beantragt oder gefällt habe, habe nur eine Bewährungsstrafe zu befürchten.

Als Opfer sehen sich auch die Täter. „Meine Mandanten sprechen von Siegerjustiz“, sagt der 72-jährige Strafverteidiger Erich Buchholtz, der das ehemalige SED-Politbüro-Mitglied Erich Mückenberger vertreten hat und zu DDR-Zeiten Ordinarius für Strafrecht an der Humboldt-Universität war. „Sie fühlen sich zu Unrecht verfolgt, weil sie nach Recht und Gesetz der DDR gehandelt haben.“

Honeckers Anwalt, Nikolas Becker, teilt den Vorwurf der Siegerjustiz nicht. Doch in einem Punkt gibt er seinem Kollegen Buchholtz recht. Um die DDR-Führungsriege verurteilen zu können, sei seiner Meinung nach das DDR-Strafrecht ausgehebelt und damit das Rückwirkungsverbot des Grundgesetzes verletzt worden. Nur so hätten die Täter wegen Menschenrechtsverletzungen zur Verantwortung gezogen werden können. „Die Prozesse durchzuführen war vertretbar“, meint Becker. „Aber man hätte ehrlich sagen müssen, dass die Bestrafung nach dem Regimewechsel politisch gewollt war, statt juristische Begründungen zu erfinden.“

Beim Rechtsanwalt Stefan König, wie Becker aus dem Westen, der neben Stasi-Chef Erich Mielke auch Grenzsoldaten, Richter und Staatsanwälte verteidigt hat, hinterlässt die Strafverfolgung noch aus anderen Gründen zwiespältige Gefühle, insbesondere was die „kleinen Mauerschützen“ angeht. Auf ihrem Rücken werde rückwirkend der Kalte Krieg ausgetragen. Die Justiz habe den politischen Nachweis dafür erbringen müssen, dass die Moskau-treue DDR ein Unrechtsstaat gewesen sei.

Doch als Vorposten des Warschauer Paktes war sie verantwortlich, „dass das groteske Mächtegleichgewicht nicht durcheinander geriet“. 80 Prozent der Bundeswehrsoldaten hätten in der gleichen Situation nichts anderes getan, als die DDR-Grenzer, nämlich zu schießen, meint der Anwalt.

Stefan König kritisiert auch jene Urteile, die gegen ehemalige DDR-Richter und Staatsanwälte wegen Rechtsbeugung ergangen sind. Die Angeklagten seien bestraft worden, obwohl sie nicht anders funktioniert hätten als ihre bundesdeutschen Kolegen bis heute: „autoritätshörig und in Untersuchungshaftsachen selbstherrlich und unmenschlich“.

Als Beispiel verweist König auf die aktuelle Rechtsprechung bei Betäubungsmittelverstößen: In 20 Jahren werde die Politik vielleicht erkannt haben, dass Drogenabhängige Kranke seien, die nicht in den Knast gehörten. „Ob sich dann wohl all die vielen Richter und Staatsanwälte wegen Menschenrechtsverletzungen verantworten müssen, die diese Menschen ins Gefängnis gesteckt haben?“

Trotz aller Kritik stellt sich die Frage, was die strafrechtliche Aufarbeitung gebracht hat. Falco Werkentin ist sich sicher: „Wenn die Justiz nicht tätig geworden wäre, hätte es Versuche von Selbstjustiz gegeben.“ Die DDR Bürgerechtlerin Ulrike Poppe hält es für einen Fortschritt, dass das DDR-Unrecht juristisch definiert worden sei: „Es kommt weniger darauf an, dass alle Täter hinter Schloss und Riegel sitzen, sondern dass sie vor Gericht stehen mussten.“

Dem DDR-Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer, der mit seinem Vorschlag einer Teilamnestie für verurteilte Täter viele seiner früheren Weggefährten gegen sich aufgebracht hat, ist dies aber nicht genug. „Die Prozesse kommen dem Phänomen des totalitären Systems und seiner Funktionsmechanismen nicht bei.“ Ein gesellschaftlicher Aufarbeitungsprozess stehe noch aus. „10 Jahre nach dem Fall der Mauer wird die Mauer des Schweigens wieder höher.“

Chefankläger Schaefgen meint, seine Behörde habe sich mit der engagierten Strafverfolgung um die Wahrung der Menschenrechte verdient gemacht. „Die Forderung, schwere Menschenrechtsverletzungen nicht ungesühnt zu lassen, nimmt international zu.“ Schaefgens Optimismus, diese Entwicklung könne die Dikatoren der Welt das Fürchten lehren, teilt Strafverteidiger Stefan König allerdings nicht. Er bezweifelt, dass Diktatoren „durch den langen Arm des Gesetzes zu Fall gebracht werden“ könnten.