piwik no script img

Live aus dem Modezentrum

Bombay, die 14-Millionen-Stadt am Arabischen Meer, strahlt hochenergetisch ihre Musik, ihre Filme und ihre Fashions auch hier zu Lande aus – über türkische Medien, die Bollywood längst entdeckt haben  ■   Von Helmut Höge

Bombay heißt neuerdings Mumbai, was auf den Namen einer hinduistischen Stadtgöttin zurückgeht. Heute feiert man in Mumbai jedoch vor allem den Gott des Wissens – mit dem Elefantenkopf: Ganesh. In Form einer gigantischen Love Parade, die 14 Tage und Nächte dauert und anfänglich eine religiös-camouflierte Demonstration gegen die englische Kolonialherrschaft war. Eigentlich findet ständig irgendwo in der Stadt ein Lkw-Massenumzug mit Musik und Tanz und Blütenstaubwolken statt, wofür schon allein die fünf Hauptreligionen eine gewisse Garantie geben.

Eine Studie der marxistischen Basisgruppe „Awakening“ in Bombay legt nahe, dass die sozialistisch-industrialistische Überwindung des indischen Kastensystems dieses nur zur Neuanpassung an die postmodernen Lebensformen zwang. Selbst in den USA lebende junge Computeringenieure annoncieren ihr Heiratsgesuch daheim in Indien offen als Wunsch nach einer Kastenheirat, und sogar die ökonomische und filmische Avantgarde der modernen indischen Frau, das „Bombay Girl“, besteht – im Gegensatz etwa zu ihren Eltern, die sich einst in der Fabrik kennen und lieben lernten – auf eine von ihnen „prearranged marriage“. In der Politik äußert sich der Hindufundamentalismus im so genannten Shiv-Sena-Faschismus und „Kommunalismus“, der wiederum einen muslimisch finanzierten Attentismus nach sich zog. In der Öffentlichkeit existieren mehrere gegenstrebige Fügungen nebeneinander: eine bis zum Äußersten tolerante Gleichheit im fließenden Verkehr – bis hin zu ausufernden Demonstrationen und Straßenfeiern mit mehreren Millionen Teilnehmern. Daneben disziplinierte Warteschlangen an den Haltestellen der englischen Busse. Aber gleichzeitig das gefährlichste Getümmel an und in den Zügen, wobei die Einsteigenden schon vor dem Halt reinspringen und dabei die Rausdrängenden zurück in die Abteile drängen. Auch dabei gibt es kastenähnliche Kampfgemeinschaften – von Gruppen junger Männer, die nah beieinander wohnen und täglich mit dem gleichen Zug zur Arbeit fahren. Für die Frauen gibt es Extraabteile, zu den Spitzenzeiten – morgens und abends – sogar einen ganzen Sonderzug, den „Lady's Special“. Auch hier wird um das Ein- und Aussteigen gerungen – jedoch eher sanft. Die Zahl der weiblichen Pendler hat indes derart zugenommen, dass die Eisenbahngesellschaft ständig weitere Fahrkartenkontrolleurinnen einstellen muss. Es gibt bereits Vororte, wo die Frauen mit den Männern gleichgezogen sind: „in work and drink“, wie der Indian Express meldet. Bombay ist immer noch die größte Textilindustriestadt der Welt. Das hat u. a. zur Folge, dass auch noch der Geringverdienendste (gut die Hälfte der Bevölkerung Bombays lebt in Slums oder auf dem Gehweg) fast immer tipptopp gekleidet auftritt: mit Bügelfaltenhose und frischem Hemd, beides farblich – meist ebenso stilsicher wie dezent – aufeinander abgestimmt. Dazwischen bewegen sich die vielen eleganten Frauen, die immer noch einen üppigeren Sari oder Salwar Kameez (eine Art Hosenanzug) in ihrer Truhe haben, der den vom Vortag topt. Der letzte Schrei sind die zwischen Blau und Grün changierenden Saris, wie sie die Hauptdarstellerin des Films „Kuch Kuch Hotta Hai“ („Es geht los!“) trug. In der halbseidenen Billigausführung kosten davon 6 Meter mit Dupata (Schal) auf dem Markt 180 Rupien, etwa 8 Mark.

Die Schnelligkeit der Moden und Musiken führt zu einem wachsenden „Gap“ zwischen Bombay und dem Rest des Landes, so wird befürchtet, aber auch oft betont. Unter den 84 Fernsehsendern, die man in der Stadt über Kabel empfangen kann, gibt es u. a. auch einen „Fashion Channel“, der 24 Stunden lang Modeschauen sendet. Mehrere mit den örtlichen Medien vertraute Journalistinnen bezweifeln jedoch, dass sich jemand diese Importshows wirklich anschaut. Für die Stilbildung sind die über zehn TV-Sender wichtiger, die ununterbrochen Musikclips, meist ausgekoppelte Gesangsszenen aus Bollywood-Filmen, senden. Die Spitzen aus den „Hindu-Pop-Charts“ – von MTV-India oder Zee-TV etwa – mischen inzwischen auch auf dem „European Musicmarket“ mit. Auf der Straße werden die Tonkassetten mit „Indipop“ für 2 Mark verkauft. Wer fernab von einem Kino lebt, kann sich auch Fotoromanversionen der Filme kaufen. Für die schnellen Videoclips – im Fernsehen – wird die dreistündige Handlung auf knappe zwei Minuten verdichtet, wobei die Übergänge – vor der dörflich-verführerischen Femme fatal zum Jeans tragenden Bombay Girl etwa – nur noch einen Katzensprung ausmachen. Zur Arbeit dürfen die weiblichen Angestellten ihre Bluejeans jedoch bisher nur am Samstag tragen. Im Gegenzug versuchen sie mit dieser Freizeitkleidung heimlich die Fünftagewoche durchzusetzen. Obwohl viele eine College-Ausbildung haben, verdienen sie oft nur 200 bis 300 Mark im Monat. Als berufstätige Frauen begreifen sie sich dennoch eher zur „Mittelschicht“ gehörig als zu „ihrer“ Kaste. Die kulturelle Mittelschicht, die enthusiastisch alle neuen Einkaufscenter, Bowlingbahnen und Pubs diskutiert, rekrutiert sich aus den konsumkräftigeren „Kreativen“ – in Film, Fernsehen, Werbung, Musik und Mode, wobei in Bombay traditionell die Parsen dominieren, die deswegen, aber auch wegen ihrer vielen dominanten und emanzipierten Mütter gern mit den Juden verglichen werden. Die bekannteste Whiskysorte Bombays heißt „Director's Special“. Es gibt aber auch immer mehr selbstständige Art- und Film-Direktorinnen, Letzteren gelingt es bisweilen, ganze Dokumentationen ohne eine einzige Rupie zu drehen. Die Szenekolumnistin Anuradha Tandon stellt solche Arbeiten regelmäßig in Clubs vor. Andere Kolumnistinnen machen sich über all jene modernen jungen Frauen lustig, die in immer neue Meditations-, Bhagvad-Gita- oder sonstige semi-esoterische Workshops strömen – um etwas für ihre Seele zu tun.

Unter den Modedesignern Bombays rangieren die für Kaufhof oder Karstadt arbeitenden weit unter denen, die Einzelstücke – für üppige Hochzeitsfeiern oder Filme und Premieren etwa – herstellen. Selbst eine Telefonistin bei Air India, die 150 Mark im Monat verdient, kann einen Hochzeitssari im Wert von mindestens 300 beanspruchen. „Gib um Gottes Willen nicht mehr als 120 Mark dafür aus“, sagt die ökonomisch denkende Computerlayouterin dagegen zu einem Mann, der ihr einen Abschiedssari schenken will. In Bombay wird alles produziert: von Maharishis Londoner „Asia Look“ über den neuesten Pariser Chic und das C & A-Biedermeier bis zu Fioruccis „Fit for Fun“-Fummel – aber Label gelten hier wenig – man kann sie überall einfach raufnähen, und es ist nicht einmal Etikettenschwindel. Die wohl anspruchsvollsten Kreationen entwirft und produziert der katholische Modemacher James Farrera, daneben kreierte er aber auch noch die Schwulenbewegung in Bombay, die inzwischen eine eigene Zeitung und etliche Disco-Clubs „betreibt“. Letztere werden immer wieder gern von Shiv-Sena-Politikern geschlossen. Dafür haben sich die urhinduistischen „Eunuchen“, die bislang das Schwulsein in der indischen Öffentlichkeit quasi rituell präsentierten, dem neuen „Bomgay“ – zum Teil bereits als „Toilette-Queens“ – angeschlossen.

Gibt es überhaupt einen Lebenswandel, den man in Indien nicht tolerieren würde? Obwohl beispielsweise alle angezogen – mit Sari oder in Hemd und Hose – baden (und hinterher komischerweise in keinster Weise derangiert aussehen), hat niemand etwas gegen völlig nackt herumwandernde Heilige. Es gibt mehrere Plätze in dem von Bettlern dicht bevölkerten Bombay, wo täglich die Tauben zu tausenden gefüttert werden. Und so manches Festessen auf dem Balkon endete schon in endlosem Warten, weil nicht einmal eine der ansonsten die Stadt zu Millionen bevölkernden Krähen angeflogen kam, um sich den ersten für sie reservierten Bissen zu schnappen. Auch bestimmte Beerdingungsrituale am Meer haben sie auf diese Weise schon platzen lassen. Indien gibt gerade den Deutschen derart viel zu denken, dass das Berliner Urban-Krankenhaus zum Beispiel lange Zeit eine Spezialtherapie für durchgeknallte Indienreisende anbot. Dort war zuvor ihre Verhaltensauffälligkeit niemandem unangenehm aufgefallen. Selbst der Umgang mit den diversen marxistischen, hinduistischen und islamistischen Terroreinheiten sowie mit der zunehmenden Zahl von Straßengangs und mafiosen Banden ist erstaunlich unhysterisch.

Drei Nachrichten – vom selben Tag – können bereits die ganze aufklärerische Spannbreite verdeutlichen: Ein Porträt der Tochter von Inder Singh aus Devra in Rajasthan, die als erstes Mädchen dort überlebte und sogar schon 12 Jahre alt ist: In den letzten 110 Jahren wurden ansonsten alle weiblichen Säuglinge sogleich umgebracht. Eine Korrespondenz aus dem Aurangabad-Distrikt, wo inzwischen mehr Mädchen als Jungen Schulen besuchen. Ein Bericht aus Uttar Pradesh über das Wirken einer rein weiblichen Gangsterbande, für deren Ergreifung der Staat bereits eine Lösegeldsumme in Höhe von mehreren tausend Mark bereitstellte. Viele Männer in der Bundelkhand-Region trauen sich nachts nicht mehr aus ihren Häusern, die schwer bewaffneten zwölf Frauen zwangen wiederholt einige Männer, sich auszuziehen, anschließend peitschten sie sie öffentlich durch, zwei Männern stachen sie gar die Augen aus. Von den Medien geradezu gefeiert wurde gerade die erste Frauensportgruppe, bestehend aus arbeitslosen Textilarbeiterinnen in Bombay, die sich an dem bisher nur von jungen Männern durchgeführten Shiva-Fest beteiligte. Dabei wird eine bis zu acht Menschen hohe Pyramide gebildet, um an einen über der Straße aufgehängten Topf mit Geld und Joghurt ranzukommen. Das anrührende Foto der sechsjährigen Vidya Kamte, auf der Spitze der ersten Frauenpyramide in der Geschichte, am Rande der Matunga Road, wurde tagelang immer wieder in den Zeitungen abgedruckt: als ein weiterer Triumph der indischen Frau.

Die Textilarbeiter in Bombay waren und sind überhaupt die Vorhut der indischen Arbeiterbewegung – und werden von daher jetzt besonders von der so genannten Globalisierung heimgesucht. Eine Textilfabrik nach der anderen wird verschlankt, geschlossen oder aufs Land verlegt. Dort sind die Löhne niedriger als in Bombay, wo ein Arbeiter etwa 4 Mark täglich verdient. Tausende haben schon seit einem halben Jahr keinen Lohn mehr bekommen, in einigen Gegenden Bombays haben sich die jüngeren deswegen in Selbsthilfe bereits zu Straßenbanden zusammengeschlossen. „Sie sind nun ein Polizeiproblem – so lange, bis die Politiker eine Lösung gefunden haben“, wie die Times of India in ihrem Lokalteil klagt. Aus der 1905 gegründeten Phoenix-Textilfabrik, die einmal 7.000 Arbeiter beschäftigte, zuletzt nur noch 100, machten ausländische Investoren in diesem Jahr ein Erlebnisrestaurant mit Bowlingbahn. In fünf zum Teil staatlichen Fabriken wird gerade um eine „Alternativlösung“ gerungen: Sie sollen in Arbeiterselbstverwaltung weiter betrieben werden. Ãhnliche Ansätze werden auch in anderen Textilzentren verfolgt. Überhaupt wimmelt es in der nahezu komplett aus Problemzonen bestehenden Stadt von Selbstorganisationen, Gewerkschaften, Kooperativen, Frauengruppen und meist ausländisch kofinanzierten Hilfsorganisationen. In diesem den Sozialstaat ersetzenden Netzwerk bilden die Letzteren – NGOs genannt – oftmals die Vorhut beim Finden und Vertiefen immer neuer lukrativer Problemfelder. Es vergeht keine Woche ohne einen internationalen Kongress über Kinderarbeit, Straßenkinder, Prostitution, Frauenhandel, Aids, Straßenhunde, Umweltvergiftung, Denkmalschutz oder Stadtplanung.

Die großen Film- und Fernsehstars drängt es in die Politik – meistens mit der Bemerkung: „Die Dreharbeiten vor Ort haben mich den Massen nahegebracht!“, so Biju Phukan. Auch die Miss India Naina Balsaver hält sich für eine genauso „street-smarte“ Politikerin wie die ehemalige „Banditenkönigin“ Phoolan Devi – und kandidierte kess für die Partei der Unberührbaren (Dalits). In Bombay bewarben sich mehr als ein Dutzend Schwerstkriminelle für das Stadtparlament. Alle versprachen den Armen, meist aus der Kaste der Dalits, dasselbe: Wasseranschluss, Elektrizität, keine Räumung ihrer Slums, stattdessen Wohnungsbau und neue Arbeitsplätze. Die etwa fünf Millionen Dalits in der Stadt votierten mehrheitlich gegen die Hindu-Fundamentalisten. Die Mittelschicht reagierte auf den Wahlkampf eher gleichgültig. Der englische Journalist Jeremy Seabrook, der sich seit über fünfzehn Jahren mit der Arbeiterbewegung Bombays beschäftigt, spricht ebenso wie die erwähnte Zeitschriftengruppe Awakening“, die in mehreren Slums Büros unterhält, von „frühkapitalistischen Zuständen“. Demgegenüber kommt die Nürnberger Gruppe Krisis in ihrem neuesten „Manifest gegen die Arbeit“ zu dem Resultat, dass die in Slums lebenden und prekär beschäftigten Textilarbeiter in Zukunft noch weit weniger zur Kapitalakkumulation beitragen, weil jetzt – am anderen Ende der industriellen Revolution – Kapital und Arbeit gleichermaßen „entwertet“ werden: Es kommt also alles noch viel schlimmer! In Bombay und nicht nur dort spekuliert man jedoch statt auf die große Krise auf das indische Fräuleinwunder.

P. S.: Am 7. und 8. Oktober stellen dazu Rijad Wadia (Bombay) und Jürgen Kuttner (Ostberlin) in der Volksbühne einen Vergleich an zwischen einigen Bollywood- und DDR-Musikfilmen in Ausschnitten – unter dem Titel: „Schlager am Ende des Ganges“. Die Veranstaltung wird in Hannover wiederholt, wo vom 4.bis 7. November das dortige Filmfestival – heuer mit dem Schwerpunkt „Bombay“ – stattfindet. „The Fractured Civilisation – Caste society in the throes of change“. Lancy Fernandes/Satyajit Bhatkal, Mumbai 1999. „Life and Labour in a Bombay Slum“. Jeremy Seabrook, London 1987. „Es rettet euch kein Billiglohn“. Norbert Trenkle (Gruppe Krisis), konkret im Oktober 1999. Auch Michael Sontheimer meint – in seinem soeben erschienenen Spiegel-Abschlussbericht „Berlin Berlin“: Kreuzberg und andere Innenstadtquartiere „sind dabei, zu Slums herabzusinken“.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen