Wilhelm Heitmeyer warnt vor Zündstoff in den Städten

■ Bielefelder Soziologe registriert wachsende Bereitschaft, Sündenböcke für soziale Probleme zu suchen

Berlin (taz) – Wie viel Fremdheit verträgt unser Land? Wie gefährlich ist sie? Diese Fragen beschäftigen nicht nur deutschnationale Mahner, sondern auch den linksalternativen Mittelstand. Längst hat dieser die Flucht vor den Problemen der innerstädtischen Gebiete ergriffen und sucht Schutz in den gut situierten Quartieren. Die Gründe für die Aufregung: Nie kamen so viele Spätaussiedler, nie so viele Asylbewerber in so kurzer Zeit, nie war der Druck von Armutsmigranten auf bundesdeutsche Großstädte so groß. Selten verfügten die Regierenden gleichzeitig über so wenig Verteilungsspielräume wie derzeit.

Bereits vor Jahren schlugen Bürgermeister deutscher Großstädte Alarm: „Wir sind am Ende, überfordert mit all den Neuankömmlingen und sozialen Problemen.“ Seitdem lautet die Frage: Kann die Stadt, die bislang in Europa als Integrationsmaschine fungierte, diese Aufgabe noch wahrnehmen?

Die Lage ist ernst. Denn verfestigt sich bei den Bürgern das Gefühl, ihr Leben nicht mehr gestalten zu können, wächst die Gefahr, dass soziale Probleme ethnisiert werden. Das Bielefelder Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung unter Wilhelm Heitmeyer hat nun eine alarmierende Bestandsaufnahme vorgelegt. Nicht nur bei den Deutschen, auch bei der größten Minderheit, den Türken, steigt die Bereitschaft, Sündenböcke für soziale Probleme zu suchen. Gleichzeitig sind die Politiker dabei, die sozialen Brennpunktgebiete aufzugeben. Eberhard Seidel

Tagesthema Seite 3