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Willkommen im Kegelkeller der Psychosen

■ Im Wahnsinn ist die Welt vernetzt: Will Selfs Erzählband „Quantitätstheorie des Irrsinns“

Aus einer gewissen Distanz betrachtet hat die Welt verdammte Ähnlichkeit mit einer Bowlingkugel. Manche Menschen wissen genau, an welcher Stelle die Finger hineingleiten müssen, um ihren Lauf dynamisch und zielsicher zu bestimmen, anderen fällt der Zugang schwerer. Sie halten das Rund etwa für einen Fußball, holen kräftig aus und brechen sich die Zehen.

Will Selfs Protagonisten sind eine interessante Spezies dazwischen. Durch einen Zufall, den man Gerechtigkeit nennen mag, finden sie die Löcher zum Zugriff auf die Welt, aber nach dem Schwungholen vergessen sie das Loslassen und werden im Folgenden mit ziemlicher Wucht aus der Bahn gerissen. Noch im Flug ereignet sich das Ungeheuerliche: wie ein sich umstülpender Handschuh zieht die Kugel ihren Antrieb in sich hinein. Ursache und Wirkung, Innen und Außen, Ich und Welt sind nicht mehr unterscheidbar. Und arbeiten, logisch, gegeneinander. Willkommen im Kegelkeller der Psychosen.

„Die Quantitätstheorie des Irrsinns“, Will Selfs erster, 1991 in London erschienener Erzählband mit sechs Geschichten aus dem pittoresken Vorgarten der Psychiatrie machte den damals 31-Jährigen schlagartig berühmt. Self erhielt diverse renommierte Preise und arbeitete parallel mit Hilfe exzessiven Drogenkonsums an der literaturunabhängigen Seite seiner Berühmtheit. Die Geschichte vom Oxford-Absolventen, der seinen Job beim Observer verlor, weil er sich in John Majors Wahlkampfjet Heroin spritzte, unterstützte 1997 auch die Werbekampagne für seinen ersten Roman in Deutschland. „Spaß“ erzählte von Marketing, Narzissmus und Gewalt als Befreiung, was ihm rasch den Ruf eines britischen Bret Easton Ellis einbrachte.

Spätestens mit der Kunstbetriebsparodie „Die schöne Welt der Affen“ hat Self 1998 jedoch bewiesen, dass Menschen mit Psychosen auch literarisch nicht zwangsläufig zu Serienmördern werden müssen. „Die Quantitätstheorie des Irrsinns“ macht nun offensichtlich, dass dies schon in Selfs wilden Jahren seine Überzeugung nicht war. Statt lustiger Aggression beherrscht eine große Verlorenheit die Texte. Sämtliche Ich-Erzähler berichten – direkt oder indirekt –, wie ihnen ganz langsam die Orientierung entglitt, wie ihre Welt zweidimensional wurde, der Horizont ein Hohlspiegel und die nähere Umgebung eine Kulisse, vor die sich eine zweite schob. In jenem oszillierenden Bereich zwischen Schein und Sein hatten sie Erleuchtungen und knallten durch.

Wahrscheinlich jedenfalls. Denn Selfs Stärke ist es, Realität stets als etwas Relatives zu beschreiben. Vom Betrachten nächtlicher Autostaus wie Psychedelic-Lampen über die Wahrnehmung von Menschen als „in Wachs getauchte Pfeifenreiniger“ ist es in den Geschichten nur ein kleiner Schritt zur Begegnung mit der toten Mutter auf der Straße. Und der Erzähler wundert sich dann am meisten darüber, dass sie nun ausgerechnet in Crouchs End lebt, dem blödesten aller Vororte Londons. In präzisen Nebensätzen nimmt Self lustig alle Wissenschaft auseinander, während die Gesamtkomposition der Texte ein sophisticated Maß an Klaustrophobie erzeugt. Dazu trägt bei, dass einige derangierte Figuren plötzlich in anderen Erzählungen auftauchen. Ganz so, als wollten sie klarstellen, dass zumindest im Irrsinn die flächendeckende Vernetzung der Welt perfekt funktioniert hat. Christiane Kühl

Will Self: „Die Quantitätstheorie des Irrsinns“. Übersetzt von Klaus Berr. Luchterhand 1999. 315 Seiten. 39,80 DM

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