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Die Zuschauer sollen die Wahl haben“

■  Zwölf Jahre lang war Dieter Grimm am Bundesverfassungsgericht für die Meinungsfreiheit zuständig. Der scheidende Richter hält die gesetzliche Kontrolle des Rundfunks auch in Zukunft für unentbehrlich

taz: Herr Grimm, im Verfassungsgericht haben Sie viel über Fernsehen und Demokratie und Meinungsbildung „theoretisiert“. Sehen Sie sich eigentlich manchmal „Verbotene Liebe“ oder Ähnliches an?

Dieter Grimm: Ich könnte nicht behaupten, dass gerade dies meine Lieblingssendung sei. Aber wenn man über Fernsehen zu urteilen hat, sollte man schon wissen, was es alles unter die Leute bringt. Natürlich verschaffe ich mir auch einen Eindruck von solchen Angeboten.

„Verbotene Liebe“ ist eine ARD-Serie. Ist das die vom Verfassungsgericht geforderte Grundversorgung durch die öffentlich-rechtlichen Sender?

Ob der öffentlich-rechtliche Rundfunk seinen Grundversorgungsauftrag erfüllt, lässt sich nicht anhand einer einzelnen Sendung beurteilen. Außerdem gehört zur Grundversorgung nicht nur Information und Bildung, sondern auch Unterhaltung. Und schließlich bedeutet Grundversorgung, dass ein Programm für das gesamte Publikum, nicht nur für ausgewählte Zirkel angeboten wird.

Sind ARD- oder ZDF-Soaps denn hochwertiger als Soaps im Privatfernsehen?

Es wäre jedenfalls wünschenswert, dass die öffentlich-rechtlichen Veranstalter sich im Unterhaltungssektor nicht die privaten zum Vorbild wählten, sondern Alternativen böten. Deswegen werden sie ja von den Zwängen, die sich aus der Werbefinanzierung ergeben, freigestellt. Allerdings darf man nicht übersehen, dass öffentlich-rechtlicher Rundfunk mit dem privaten im Wettbewerb um die Zuschauer steht. Das führt zu einem schwierigen Spagat, Anpassungen bleiben da nicht aus.

Dann wäre das System doch gescheitert, nachdem ARD und ZDF die Grundversorgung machen sollen und die Privaten dafür mehr auf die pure Quote achten dürfen?

Der Grundversorgungs-Auftrag gilt nicht nur für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, sondern auch für den privaten. Aus der unterschiedlichen Zielsetzung und der unterschiedlichen Finanzierungsweise ergeben sich allerdings gewisse Abstufungen. Die Anforderungen an den privaten Sektor können gelockert werden, solange jedenfalls der öffentlich-rechtliche die Grundversorgung ungeschmälert leistet.

Ist es nicht etwas paternalistisch, wenn sich der Staat sogar Sorgen um die Qualität der Fernseh-Unterhaltung macht?

Von Paternalismus könnte man dann sprechen, wenn das Zuschauerverhalten geregelt würde. Die Zuschauer bleiben in ihrer Entscheidung aber völlig frei. Die staatliche Sorge bezieht sich auf die Angebotsseite, im Interesse der Zuschauer: Sie sollen wirkliche Wahlmöglichkeiten haben.

Der Zuschauer soll Wahlfreiheit haben, das betonen Sie häufig. Während der attraktiven Sendezeit hat er aber vor allem die Auswahl zwischen verschiedenen Unterhaltungsangeboten. Wäre es da nicht sinnvoller, die Öffentlich-Rechtlichen konzentrierten sich ganz auf Informations- und Kulturprogramme?

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist nicht dazu da, überall dort in die Bresche zu springen, wo der private Defizite hinterlässt. Er hat ein umfassendes und eigenständiges Angebot zu machen. Die Bedeutung der Unterhaltung darf man dabei nicht unterschätzen. Weltbilder, Einstellungen und Verhaltensmuster werden hier unter Umständen viel nachhaltiger geprägt als in den politischen oder kulturellen Sendungen. Würde sich öffentlich-rechtlicher Rundfunk nur an spezielle Zielgruppen wenden, ließe sich im Übrigen die allgemeine Gebührenfinanzierung kaum noch rechtfertigen.

Aber muss man für die Finanzierung der Sender nicht ohnehin über andere Lösungen nachdenken? Schließlich werden Rundfunkgebühren auch derzeit schon immer weniger akzeptiert und technisch sind sie immer weniger begründbar.

Das Bundesverfassungsgericht hat stets betont, dass die Gebührenfinanzierung die dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk besonders gemäße, nicht aber die einzig zulässige ist. Welche Finanzierungsweise auch immer gewählt wird, es müsste jedenfalls gesichert sein, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk im dualen System wettbewerbsfähig bleibt und politische Einflussnahmen mittels Geld ausgeschlossen sind.

Auch ohne Steuerfinanzierung versucht die Politik zunehmend in die Programmautonomie von ARD und ZDF einzugreifen. Ein öffentlich-rechtlicher Nachrichtenkanal wurde von den Ministerpräsidenten verhindert, um die private Konkurrenz zu schützen. Bei der Gründung des Südwestrundfunks haben die Länderregierungen sogar Zahl und Art der Programme vorgegeben.

Nach meinem Eindruck hat sich die politische Einflussnahme seit dem Ende des öffentlich-rechtlichen Rundfunkmonopols eher abgeschwächt. In welchem Maß Art und Zahl der öffentlich-rechtlichen Programme gesetzlich bestimmt werden dürfen, ist verfassungsrechtlich noch nicht abschließend geklärt. Wenn es hier Streit gibt, wird er sicherlich eines Tages in Karlsruhe ausgetragen.

Ist die vom Bundesverfassungsgericht propagierte Idee der Grundversorgung nicht schon bald überholt? Die Digitalisierung könnte dazu führen, dass es Vollprogramme wie die ARD künftig nicht mehr gibt, nur noch Pakete von Spezialangeboten.

Die Idee der Grundversorgung halte ich nicht für überholt. Sie besagt ja, dass im gesamten Rundfunkangebot die Breite der Gegenstände und die Fülle der Meinungen wiederkehren muss, und zwar empfangbar für alle und auf Dauer. Das ist im Interesse der verfassungsrechtlichen Zielwerte von freier Persönlichkeitsentfaltung und freier Meinungsbildung unverändert gültig. Ändern können sich dagegen die Mittel der Zielerreichung, wenn die tatsächlichen Verhältnisse sich wandeln, etwa durch die Digitalisierung. Ob Vollprogramme damit obsolet werden, vermag ich aber heute noch nicht abzusehen.

Die Digitalisierung führt auch dazu, dass Programme für die Zuschauer immer teurer und schwerer zugänglich werden. Wenn zum Beispiel ein Digitalfernsehdecoder 800 Mark kostet und man ohne ihn bestimmte Sendungen nicht mehr sehen kann, wird die Fernsehvielfalt doch zu einer Sache des Geldes.

Die Fernsehveranstalter wollen immer noch die Massen erreichen. Überzogene Preise lassen sich damit schwer vereinbaren. Im Übrigen hat das Bundesverfassungsgericht gegen Informationsmonopole einzelner Veranstalter in dem Kurzberichterstattungs-Urteil Vorsorge getroffen.

Das Verfassungsgericht hat dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk eine „Entwicklungsgarantie“ gegeben. Nun vermarkten die Medienkonzerne die Programme für Rundfunk, Fernsehen, Internet und andere Medien zunehmend zusammen. Muss man Ihrer Garantie zufolge ARD und ZDF erlauben, auf diesen Feldern ebenfalls aktiv zu werden, damit sie mit der privaten Konkurrenz mithalten können?

Die Bestands- und Entwicklungsgarantie gilt für den „Rundfunk“. Hier muss der öffentlich-rechtliche Sektor, solange es das duale System gibt, konkurrenzfähig bleiben. In Multimedia-Unternehmen dürfen sich die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten nicht verwandeln. Wo die Grenzen im Einzelnen verlaufen werden, ist angesichts der rasanten technischen Entwicklung derzeit nicht deutlich absehbar.

Könnte am Ende auch ein freier Markt der elektronischen Medien stehen?

Ich sehe keine Konstellation vor mir, in der medienspezifische Regelungen völlig entbehrlich würden. Das hängt vor allem damit zusammen, dass Rundfunk keine Ware wie jede andere ist. Persönlichkeitsentfaltung, Meinungsbildung und Demokratie sind auf ihn angewiesen. Einmal eingetretene Fehlentwicklungen mit ihren Folgen für diese obersten Verfassungsziele ließen sich nachträglich kaum noch korrigieren.

Die Medienwirtschaft ist einer der wichtigsten Wachstumsmärkte mit harter Standortkonkurrenz. Meinen Sie wirklich, dass sich hier das Primat der Politik noch durchsetzen lässt?

Gerade die Standortkonkurrenz zeigt, dass von der Politik etwas abhängt. Sie besitzt Steuerungsmöglichkeiten und Steuerungsinstrumente. Es kommt auf den Willen zum Gebrauch an. Dabei ist freilich die Wahl der Steuerungsebene wichtig. In vielen Bereichen werden effektive Regelungen nur noch europaweite Regelungen sein können.

Europäische Regelungen setzen voraus, dass Rundfunk als Wirtschaftsgut behandelt wird. Damit tun sich aber gerade in Deutschland viele schwer. Die Bundesländer wollen weiterhin die Medienfragen allein regeln und verweisen auf ihre Kulturhoheit – obwohl sie damit vor allem Standortpolitik betreiben.

Wirtschaft und Kultur sind keine Gegensätze. Kulturelle Güter kosten Geld, mit kulturellen Gütern kann Geld verdient werden. Insofern hat auch die Kultur ihre wirtschaftliche Seite. Es kommt aber darauf an, dass das Produkt Rundfunkprogramm primär nach publizistischen Kriterien hergestellt werden kann, was ja Sparsamkeit nicht ausschließt. Jede Indienstnahme für außerpublizistische Zwecke widerspräche der Verfassung.

Trotz aller Versuche von Politik und Verfassungsgericht, die Medienentwicklung zu steuern, kam der wichtigste Impuls gegen Medienmonopole ausgerechnet von EU-Wettbewerbskommissiar Karel van Miert, als er die Pay-TV-Fusion von Bertelsmann und Kirch unterband. Ist das für die eigentlichen Medienpolitiker und -rechtler nicht etwas peinlich?

Jede Institution hat ihren Verantwortungsbereich und ihren Handlungsrahmen. Medienpolitik und Medienrecht waren ja nicht passiv. Stellen Sie sich vor, es gäbe die Medienrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht. Sähe die Medienwirklichkeit bei uns dann nicht ganz anders aus?

Besser oder schlechter?

Schlechter, jedenfalls gemessen an den Maßstäben, die das Grundgesetz im Interesse des Gemeinwohls vorgibt.

Interview: Lutz Meier und Christian Rath

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