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Theater als Freiraum

Flüchtlings-Kids spielen ihren Alltag: „Hajusom zwo!“ hat morgen im Schlachthof Premiere  ■ Von Michael Müller

Mit Ernst sind sie bei der Sache und diskutieren die Schwachstellen der letzten Szene: Saidou, Elias Mushgan und die anderen Darsteller des Theaterprojektes Hajusom zwo!. Sie alle sind Flüchtlinge im Alter zwischen 13 und 17 Jahren – die meisten von ihnen sind ohne Eltern nach Deutschland gekommen. Geflohen sind sie vor Bürgerkrieg und Unterdrückung aus Ländern wie Afghanistan, Sierra Leone oder Liberia. Das gemeinsame Spiel auf der Bühne soll ihnen die Möglichkeit geben, von ihren Heimatländern und ihrem Alltag in Hamburg zu erzählen.

Im Februar 1999 starteten die Regisseurin Dorothea Reinicke und die Schauspielerin Ella Huck das Projekt. Was auf der Bühne am Ende stattfinden sollte, war zunächst volkommen offen. Die Szenen wurden von und mit den Jugendlichen erarbeitet. Einige sind aus Improvisationen zu typischen Erlebnissen entstanden – etwa eine Szene, in der sich Passanten in der S-Bahn über das zu laute Gespräch der afghanischen Freunde aufregen: Man sei schließlich in Deutschland. Andere sind das Ergebnis von internen Konflikten: In der Erstversorgungseinrichtung, in der die 15-köpfige Gruppe probt, ist es einmal fast zu handfesten Auseinandersetzungen gekommen. Die afrikanischen Jungs hätten sich den afghanischen Mädchen gegenüber zu locker verhalten, meinten deren Brüder und Freunde. Der Streit konnte gerade noch vor der Eskalation geschlichtet werden. Zwei Wochen später war es möglich, den Konflikt auf der Bühne nachzuspielen und so eine distanzierte Sichtweise zu gewinnen. Inzwischen sei der Umgang der Kids miteinander gleichberechtigt und nahezu unproblematisch, meint Reinicke.

Die ersten Aufführungen im Mai wurden von allen Seiten als großer Erfolg gewertet. Nicht nur Sozialarbeiter und Betreuer waren beeindruckt, welche sprachlichen und sozialen Kompetenzen die Jungen und Mädchen sich im Laufe der Arbeit angeeignet hatten. Vor allem war die Gruppe selber von ihren Erfahrungen und dem Publikumserfolg begeistert. Es sollte weitergehen: Der Landesbetrieb Erziehung und Berufsbildung und weitere Träger haben die Gelder für die Verlängerung des Projektes bereitgestellt.

Mit Hajusom zwo! kommt morgen im Schlachthof eine erweiterte Fassung auf die Bühne. Die Gruppe ist inzwischen zusammengewachsen. Geburtstage werden gemeinsam gefeiert, und wenn jemand – wie kürzlich die 15-jährige Winnie aus Liberia – im Krankenhaus liegt, kommen die anderen zu Besuch. So erschienen die meisten auch regelmäßig zur Probe, obwohl sie mittlerweile nicht mehr zusammen in der Erstversorgungseinrichtung, sondern verstreut in Jugendwohnungen leben. In der heißen Phase vor der Premiere hilft man der Disziplin allerdings nach: Per kollektivem Handschlag wird der nächste Termin feierlich besiegelt.

Von der ursprünglichen Besetzung sind fast alle dabei geblieben. Nur Safayou aus Sierra Leone ist eines Tages spurlos verschwunden. Die anderen wissen nicht einmal, ob er noch lebt. Vielleicht ist er aus Angst vor Abschiebung untergetaucht. Sein Verschwinden wird in der Neufassung des Stückes thematisiert. Der 17-jährige Hasak aus Togo hingegen ist neu in der Gruppe. Er hatte im Mai die Aufführung gesehen und Lust bekommen, mitzumachen.

Reinicke und Huck sind mit dem Projekt sehr zufrieden. Sie selbst seien beispielsweise überrascht gewesen, wie selbstbewusst die afghanischen Mädchen innerhalb so kurzer Zeit geworden sind. Mit klassischer Sozialarbeit sei so etwas gar nicht zu schaffen. Reinicke: „Wir sagen: Wir haben hier einen Freiraum, in dem andere Gesetze gelten. Es ist etwas ganz Spezielles von Mensch zu Mensch. Wir sind keine Pädagogen, wir sind keine Betreuer, sondern wir sind Künstler. Und wir merken, dass das unsere Chance ist.“

Ob es eine Fortsetzung des Projektes gibt, steht noch nicht fest. Und auch die persönliche Zukunft der Kids ist unsicher – ein langfristiges Aufenthaltsrecht hat kaum jemand von ihnen. Die bei Hajusom gesammelten Erfahrungen kann ihnen jedoch niemand mehr nehmen.

Premiere: morgen, 19.30 Uhr, Schlachthof, Neuer Kamp 30; weitere Vorstellungen: 30., 31. Oktober, 20. November, 19.30 Uhr, 21. November, 12 Uhr, Kartenvorbestellung unter % 43 13 00 30 (Mo - Fr 10 - 12 Uhr)

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