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Den geistig weiten Blick üben

Wer schlecht sieht, wolle bestimmte Dinge nicht an sich ranlassen, sagen die Verfechter der Methode „Natürlich besser Sehen“. Augentraining und Entspannungstechniken sollen helfen. Unter Schulmedizinern ist das Verfahren umstritten  ■   Von Martin Kaluza

Messbare Verbesserungen konnten nur bei Patienten mit leichter Sehschwäche festgestellt werden

Rechnet man einmal vom Kleinkind bis zum Rentner, dann haben rund 52 Prozent aller Menschen in der Bundesrepublik eine Sehhilfe. Ziemlich genau die Hälfte von ihnen, vor allem jüngere Leute, sind kurzsichtig, die andere weitsichtig. Aber brauchen sie ihre Brille wirklich?

Wer nicht mehr richtig gucken kann, verlässt die Praxis eines Augenarztes nicht ohne das obligatorische Brillenrezept. Das klingt für die meisten von uns selbstverständlich, weil die Brille ja dazu da ist, die Sehschwäche auszugleichen. Der im Sommer verstorbenen australischen Psychologin Janet Goodrich war das jedoch nicht genug: Sie entwickelte die Methode „Natürlich besser Sehen“, mit deren Hilfe das Sehvermögen der Augen wieder verbessert oder zumindest erhalten bleiben sollte. Augenübungen und Entspannungstechniken sind der Kern ihres ganzheitlichen Ansatzes.

Die Berliner Heilpraktikerin Margit Kaufmann bietet für Einzelne und Gruppen Kurse nach Goodrichs Methode an. In Übungen und Gesprächen will sie sich nicht allein mit den Sehschwächen der Teilnehmer beschäftigen, sondern versuchen, deren Ursachen freizulegen. „In erster Linie geht es um eine Geisteshaltung“, erklärt Kaufmann, die eigens nach Australien geflogen war, um sich dort von Goodrich selbst ausbilden zu lassen. Wer schlecht sieht, wolle bestimmte Dinge nicht an sich heranlassen. Kaufmann spricht gern davon, diese durch Übungen wieder „einzuladen“ und so dem Kursteilnehmer ins Bewusstsein zu bringen.

Goodrich hatte sich von zwei schillernden Gestalten vom Beginn des Jahrhunderts inspirieren lassen. Zum einen hatte der amerikanische Augenarzt Bates mit der These auf sich aufmerksam gemacht, dass die Augenmuskeln, die neben der Linse an der Nah-Fern-Einstellung des Auges beteiligt sind, verkrampfen und so zu unscharfem Sehen führen können. Zum anderen stützt sich Goodrich auf den Freud-Schüler Wilhelm Reich, der Muskelspannungen im Körper auf geistig-seelische Spannungszustände zurückführte. Ausgerechnet im Augenbereich, so meinte Reich in seiner mystisch angehauchten Terminologie, werde der freie Fluss von Lebensenergie blockiert. Goodrichs Schlussfolgerung lautete also, verkürzt gesagt: Wer im Stress ist, verspannt sich und sieht schlecht. Der Umkehrschluss bot sich an, dass man durch Entspannungsübungen auch den Sehorganen wieder auf die Sprünge helfen könnte.

Margit Kaufmann beginnt ihre Kurse, indem sie erst mal eine Reihe von Übungen vorstellt, aus denen sich die Teilnehmer zwei oder drei aussuchen, um sie später auch zu Hause durchzuführen. Kurzsichtige, so Kaufmann, neigten dazu, möglichst alles in ihrem Gesichtsfeld zu fokussieren: „Das geht gar nicht, weil jeder in den Randzonen unscharf sieht. Bei ihnen geht es dann darum, den weichen Blick zu üben.“ Das geschehe zum Beispiel mit dem „Federschwung“, der darin besteht, im Stehen hin und her zu schwingen, was die Beweglichkeit der Augäpfel beeinflusse.

Weitsichtige hingegen neigten dazu, sich mit Details zu befassen. Ihnen empfiehlt Kaufmann zu „posaunen“: Der Patient deckt ein Auge ab, hält sich einen Gegenstand dicht vor die Nase und führt ihn von dort weg, bis der Arm ausgestreckt ist. „Kleinaerobic“ nennt die Heilpraktikerin das. Andere bungen funktionieren mit geschlossenen Augen: Gerötete Augen werden „palmiert“, das heißt mit den Handflächen abgedeckt. Oder Kurzsichtige stellen sich mit geschlossenen Augen zunächst nur vor, Dinge in der Ferne zu sehen. Kaufmann: „Sie üben den geistig weiten Blick und laden die Weite ein. Dadurch sollen sie von ihrem eingefahrenen 'Ach, das sehe ich ja sowieso nicht‘ abkommen.“

Haben die Augenspiele erst einmal ihren Lauf genommen, berichtet Kaufmann, kommen die Fragen nach den Ursachen irgendwann von selbst. Dann beginnt der psychologische Teil der Therapie, in dem nicht der Intellekt, sondern vielmehr die Emotionen angesprochen werden sollen.

Das Verfahren ist unter Schulmedizinern allerdings umstritten, beim Berufsverband der Augenärzte trifft es gar auf offenen Hohn. Sein Pressesprecher Georg Mehrle, selbst niedergelassener Augenarzt, wettert: „Ich habe nicht dagegen, wenn sich Leute ihres Schuhwerks entledigen, im Kreis sitzen und blinzeln. Aber Goodrichs und Bates' Methoden sind erwiesener Blödsinn, über hundert Jahre hinweg.“ Zwar gäbe es Augenkrankheiten auf psychosomatischer Basis, wie etwa chronische Entzündungen, das trockene Auge oder bestimmte Ödeme in der Netzhautmitte. „Das“, so Mehrle, „kann aber nicht als Beleg für Bates gelten.“ Kurz- wie Weitsichtigkeit sei mit solchen Übungen „auf keinen Fall“ beizukommen. Die Übungen an sich hält er zwar nicht gerade für schädlich. Gefährlich werde es aber, wenn Patienten nach einem solchen Kurs meinen, sie bräuchten jetzt keine Brille mehr zum Auto fahren und warnt: „Wer eine Sehhilfe braucht, muss sie tragen.“

Dass Augenärzte mit ihren Kursen nicht viel anfangen können, nimmt Kaufmann gelassen: „Sie haben eine derart technisierte Ausbildung, dass sie eigentlich gar nichts dafür können, wenn sie so denken.“

Auch die Berliner Augenärztin Gisela Fanselow-Hinrichs steht dem Sehtraining aufgeschlossen gegenüber: Die Methode könne durchaus die Wahrnehmung und das Wohlbefinden der Patienten verbessern. Bei Patienten, die Sehtraining betreiben, habe sie messbare Verbesserungen des Sehvermögens festgestellt – allerdings nur bei solchen, die eine leichte Sehschwäche haben. Wer eine Brille mit fünf Dioptrien Korrektur braucht, bei dem ist nichts zu löten. „Wenn jemand minus 0,5 oder minus 0,75 hat, kann man etwas machen. Aber Wunder habe ich noch nicht erlebt.“

Bei den Gesundheitstagen gibt es Sehtrainings-Probekurse am Sa., 13. 11., 16 – 17.30 Uhr, und am So., 14. 11., 14 – 15.30 Uhr

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