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■ Die britische Regierung versäumt eine VerfassungsreformRote Karte für Erblords

Wir werden sie vermissen. Wenn diejenigen Lords, die ihren Titel geerbt haben, aus dem britischen Oberhaus fliegen, verlieren wir ein Stück Unterhaltung. Wo erlebt man denn noch einen Grafen, der den stellvertretenden Sprecher der Lords aus dem Weg rammt, sich auf das gepolsterte Podium schwingt und eine flammende Lobrede auf seine Kaste hält? Dabei ist der Graf von Burford, dessen Vorfahr Edward de Vere seiner Meinung nach der wahre Autor sämtlicher Shakespeare-Stücke ist, bisher noch gar kein richtiger Lord.

Aber ist die rote Karte für die Erblords wenigstens gut für die Demokratisierung Britanniens? Wohl kaum. Tony Blairs Labour-Regierung hat sich auf einen faulen Kompromiss eingelassen, weil man sich noch nicht darüber klar ist, wie das Oberhaus künftig überhaupt aussehen soll. In der Übergangsphase haben 92 Erblords weiterhin Stimmrecht. Das bedeutet, dass die auf Lebenszeit in den Adelsstand erhobenen Mitglieder die Mehrheit haben werden. Und die werden von der jeweiligen Regierung ernannt. So geht der letzte Rest von Kontrolle über die Gesetzgebung, die das House of Lords noch hatte, verloren.

Das heißt nicht, dass die stimmberechtigten Erblords eine erhaltenswerte Einrichtung sind. Doch Labours halbherzige Reform, die noch vom Unterhaus abgesegnet werden muss, führt zunächst einmal zu größerer Macht für die Regierung. Das war zweifellos auch Blairs Absicht. Andernfalls hätte er eine umfassende Verfassungsreform in Angriff genommen: eine gewählte zweite Kammer eingeführt und das ungerechte Mehrheitswahlrecht bei den Unterhauswahlen abgeschafft.

Und die Tories? Ach je. Da hatte ihr Chef William Hague endlich die Chance, sich zum Vorreiter einer Reform zu machen – und stattdessen hielten die Tories die Klappe, ja stimmten bei der Abschaffung der 600 Jahre alten Tradition gar nicht erst mit. Das sagt einiges über den erbärmlichen Zustand der Partei.

Walter Bagehot, Verfassungsrechtler im viktorianischen England, hat einmal gesagt, es gebe nur ein einziges Heilmittel gegen die Bewunderung des Oberhauses: Geh hin und sieh es dir an.

Wenn der Graf von Burford Recht behielte und der „in Brüssel ausgeheckte Hochverrat“ – die stimmlosen Erblords – schließlich zur Abschaffung der Monarchie führen sollte, wäre die Oberhaus-Abstimmung vom Mittwoch tatsächlich die von Labour gepriesene historische Entscheidung: Auf Elisabeth II. folgte dann womöglich Tony I. Ralf Sotscheck

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