Das Pathos devianter Frisuren

Heute tragen viele Jugendliche ihr Haar raspelkurz – sehr zur Irritation der Älteren, die immer glaubten, ungebändigtes Haar gehöre zur ungebärdigen Jugend einfach dazu. Als ob Freiheit nur mit wehender Mähne zu erreichen und zu genießen wäre! Dabei trägt jede Jugendgeneration nur die Frisuren, vor denen die Eltern immer gewarnt haben. Das sieht nicht immer schön aus, hat aber meist viel zu bedeuten. Ein Rückblick auf dreißig Jahre Protestästhetik von Reinhard Krause

Kaum waren die Haare eine Idee länger als frisch geschnitten, frotzelten Onkels und Tanten: „Kinder, wollt ihr denn rumlaufen wie die Beatles?“ Die Beatles? Unsere Mutter verdrehte regelmäßig die Augen – schließlich war sie diejenige, die uns Jungs die Haare schnitt. Uns war es ja herzlich gleichgültig, wie unser Haar aussah – für Kinder ist Haareschneiden immer eine öde Prozedur. „Wie die Beatles“ wollten wir aber lieber doch nicht aussehen, auch wenn wir keine Ahnung hatten, was denn, bitte schön, die Beatles waren. Wie sich alle aufführten, musste es etwas sein, das zwar harmlos, aber zugleich auch zutiefst schrecklich war.

Keine zehn Jahre dauerte es, da wurden die Songs der Beatles in ZDF-Galas nachgespielt, und zwar von Bigbands. Die Blumenarrangements auf den TV-Bühnen waren spießiger denn je, aber die Orchestermusiker trugen sämtlich Pony bis zu den Augenbrauen und Nackenrollen, die jenseits des Hemdkragens endeten. Angesichts damaliger Stars wie Thin Lizzy (Frisurenmodell „Auch dünnes, splissiges Haar kann rechtlang werden“) oder Alice Cooper (Typ „Mascaramädchen nach einem Hurrikan“) hatte sich die Einsicht durchgesetzt, dass die Beatles doch eigentlich ganz freundlich gewesen waren. Selbst bei der Bundeswehr musste die Frisur in den Siebzigerjahren nicht mehr rasiermesserkurz sein. Ein wenig Volumen war erlaubt – vorausgesetzt, das Haar war „gepflegt“ und der Rekrut trug (peinlich!) ein Haarnetz.

Freddy Quinn dagegen, Muttis notorischer Nestflüchter, zeigte sich unnachgiebig. 1969 nahm er einen musikalisch nicht unflotten Song mit dem Titel „Wir“ auf, eine Art Marschgospel. „Wer will nicht mit Gammlern verwechselt werden?“, fragt er darin. Wie aus der Pistole geschossen jubelt ein vielstimmiger Chor: „Wir!“ Wer sorgt sich um den Frieden von morgen? „Wir!“ Gelegentlich erschallt auch ein abweisendes „Ihr!“ – immer dann etwa, wenn Freddy fragt, wer keine Leistung erbringen und stattdessen lieber Kirchen beschmieren wolle. Ganz am Ende dann das Credo jenes Jahrzehnts: „Wer trägt auch lange Haare – nur sind sie gewaschen?“ Sie dürfen raten.

Langes, zotteliges – man könnte auch sagen: unambitioniertes – Haar war die Frisur der Haschischraucher, Verweigerer, der Nichtstuer. Wer sein Haar wachsen ließ, wie es Gott nun einmal gefiel, sagte nein zur Gesellschaft, zum Establishment. Und vermutlich auch zu seiner verspießerten Familie. Selbst wenn die mittelgescheitelten Peaceniks der Siebzigerjahre heute einen erschütternd lahmen Eindruck machen: Ihr Haar war Ausdruck eines aufregenden Lebensgefühls. Und je mehr die Freddys dieser Republik und die Eltern geiferten, desto mehr konnten sich die Langmähnigen in ihrem Protest bestätigt fühlen. Und der Triumph war, rückblickend betrachtet, groß: Anders als die Beatlesfrisur hat die formlose Matte nie wirklich Einzug in die bürgerliche Gesellschaft gehalten.

Endlich! An der Universität galten andere Frisier- und Verhaltenscodes als in der Kleinstadt. Nicht mehr brav und unauffällig war das Haar zu tragen, sondern wild und zottelig. Mainstream? Vergiss es! Ab einer bestimmten Länge war es nicht einmal mehr nötig, eine Bürste zu besitzen. In den Seminaren saßen Kommilitonen mit wirrem Monsterhaar und hochkomplexen politischen Ansichten. Schüttel dein Haar und sag nein zur Klassengesellschaft, sag nein zu den Pershings und schüttel es noch mal. Es dauerte zwei Semester, bis ich merkte, dass alles Reden über Politik nur ein Ersatz war für das kleinstädtische Reden über Autos und Fußball. Über sich selbst wusste man sich nichts zu berichten.

Schlimmer: Unter den Aufrechten und Zotteligen gab es einen besonders hohen Prozentsatz oktroyanter Gestalten. Wozu dann der ganze Aufstand mit dem Haar und den ausgeleierten Klamotten? Ins dritte Semester ging ich mit einem flotten Kurzhaarschnitt. In der Mensa tuschelte es hinter mir: „Und das da ist ein typischer RCDS-Student.“

Jugendkultur vor zwanzig Jahren hieß, sich zu entscheiden zwischen den Modellen Stino, Punk, Popper und Müsli. Jede Gruppe hatte einen eigenen Frisurenkanon. Die Popper (später die Waver) waren es, die das fachgerecht geschnittene Haar zum Fetisch erhoben. Eine britische Popband der frühen Achtzigerjahre trug den selbstironischen Namen „Haircut 100“. Nach all dem amorphen Hippiegedusel der vorigen Dekade war es ein regelrechter Befreiungsschlag, einen Scheitel zu tragen. Eine moderne Frisur zu haben war fast ein Glaubensbekenntnis. Robert Görl von der Deutsch-Amerikanischen Freundschaft skandierte: „Klatsch in die Hände / Beweg deinen Hintern / Verehre deinen Haarschnitt“.

Gralshüter der politischen Korrektheit sahen bei solchen Sätzen den Faschismus wieder herannahen. Eine richtige Frisur zu haben bedeutete aber eigentlich nur, privat und politisch nicht länger zu träumen, pseudoegalitäres Dozieren abscheulich zu finden und Spaß an den Variationsmöglichkeiten des Haars zu entwickeln. Wenn die Menschen alle gleich sind und gleiche Rechte besitzen, müssen sie ja nicht auch noch alle dieselbe Frisur haben.

In politisch weniger desillusionierten Kreisen dauerte es länger, bis die alten Zöpfe fielen. Kurioserweise handelte es sich dabei allerdings weniger um einen emanzipativen Akt, sondern schlicht um einen späten Nachvollzug von Mode: Man (und frau) wollte nicht als letzte MohikanerInnen des Aussteigerlooks gelten. Den neuen Schnitt besorgten freilich meist keine teuren Coiffeure, sondern mutige oder einfach nur bedenkenlose FreundInnnen.

Dabei entdeckte man ein kreatives Gestaltungsmittel: Nicht die ganze alte Pracht fiel dem Wunsch nach Veränderung und Dynamisierung zum Opfer; ein beliebig zu wählender Zottelrest wurde in seiner alten Länge belassen und zeugte so von politischer Vergangenheit. Das konnten dünne Zöpfchen sein oder ganze Nackenspoiler. Komischerweise wurde diese Frisur rasch zu einem Klassiker des proletarischen Frisurenrepertoires: einer der seltenen Fälle, wo deutsche Arbeiter ein Erbe der deutschen Linken antreten mochten. Und prompt sah es hässlich aus.

Anders als die wenig ansprechenden Vornekurzhintenlangfrisuren waren die Punkschädel der Siebziger- und Achtzigerjahre natürlich kein bloßer geschmacklicher Unfall. Sie waren ja auch keineswegs dafür konzipiert, hübsch auszusehen. Komplimente in dieser Richtung hätten Depressionen ausgelöst. Gegen Zuspruch von außen immunisierte man sich durch eine wilde Schale und ungefälliges Auftreten. Sahen sich die Hippies noch als die heimlichen Heilsbringer, begriffen sich die Punks als endgültige Outcasts: no future! An ihrem Wesen sollte niemand mehr genesen.

In der Gothicszene wurde später das punkige Aufbegehren in den Freizeitbereich verlegt: tagsüber Schule oder Ausbildung – und abends in die Gruftibar. Eine Szene, die stets zu sagen schien: „Zwei Seelen wohnen, ach, in meinem Haar.“ Immerhin erinnerten die voluminösen nachtschwarzen Schornstein- und Schlotfrisuren entfernt an die Zeiten der Madame Fontange am Hof des Sonnenkönigs Louis XIV. Und auch für Ironie blieb ein wenig Platz. Joolz etwa, eine englische Sängerin mit Gruftappeal, besang 1984 eine Freundin namens Debra, die der schwarzen Magie verfallen war, nachts auf dem Friedhof Sex hatte, ihr Haar und überhaupt alles schwarz einfärbte. „Ich sagte ihr: Wie gut, dass die Katze eh schon schwarz ist! Sie fand das gar nicht witzig.“

Das erste Haarefärben war eine Zitterpartie: Butterblond sollte es werden. Es wurde Butterblond! Ins Elternhaus fuhr ich für Wochen nicht mehr. Als mein Vater mich schließlich doch zu Gesicht bekam, war seine Bestürzung sekundenlang nicht zu übersehen. Immerhin wusste ich hinterher: Der Mann hat Contenance. In der Uni indes nahm mich eine mir nahezu unbekannte Kommilitonin beiseite und raunte mir zu: „Du bist ja mutig! Wenn ich mein Haar so färben würde – meine Freundinnen würden kein Wort mehr mit mir sprechen.“

Heute ist natürlich alles wieder ganz anders: Wer jung und hip ist, trägt längst keine Jeans mehr, sondern moderne Hosen aus Stretchstoff: bequem wie eine Trainingshose, aber mit akkurater Bügelfalte. Die späten Neunzigerjahre sind aber auch die hohe Zeit des Haarefärbens. Frech wirken wollende junge Frauen bevölkern die Werbung und stoßen hervor: „Langweilige Haarfarbe? Kann mir nicht mehr passieren!“

Keineswegs ist mit „langweilig“ heutzutage nur straßenköterblond gemeint. Langweilig sind momentan auch alte Wunschfarben wie Strohblond, Tizian oder Walnuss. Nur was schon auf dreißig Meter Entfernung künstlich wirkt, ist wirklich aufregend. Von Plastikeimerrot bis zu Lilastichigem ist keine Nuance tabu. Mit ein wenig Geduld kann man im Berliner Straßenbild gestandenen Damen um die sechzig begegnen, die kreischrotes Haar spazieren tragen. Das Ganze erinnert allerdings meist eher an Otto Dix' ramponierte Dirnen als an „Lola rennt“.

Noch etwas ist neu: Wurden Männer als Kundschaft für Färbemittel bislang nur dann ins Visier genommen, wenn es darum ging, graue Schläfen zu kaschieren, so gibt es jetzt erste Unisex-Färbeserien. Poly Live sei Dank können sich Jungs nun mit einer Färbepackung aus der Drogerie begeben, ohne groß Angst haben zu müssen, für schwul gehalten zu werden. Ob „Hot Mandarine“, „Spicy Brown“ oder „Blond Extreme“– Männer sind jetzt reif für jede Modefarbe.

Die Industrie am Ausgang des Jahrhunderts – ein Hort der Geschlechterdemokratie? Die Firma Loréal allerdings dekonstruiert gleich wieder jeden Avantgardegedanken, indem sie eine kleine Färbeserie nur für den hippen jungen Mann entwickelte – mit männlich-herben Farbnamen wie „Rhum“, „Grafite“ oder „Teck“. Seien wir ehrlich: Ohne wenigstens ein Quäntchen Verruchtheit ist Rebellentum nicht zu haben. Die herauswaschbare Technotönung für die Love Parade ist deshalb nichts als Karneval.

Wer heute noch per Frisur Furcht und Schrecken auslösen will – und darum geht es bei juvenilen Haarexperimenten natürlich auch –, muss sich etwas mehr einfallen lassen. Nichts liegt näher, als das allgemein Verpönte zu tun – und das ist schon lange nicht mehr die Matte, sondern die Glatze. Eine echte Novität in der Nachkriegsgeschichte ist der Verzicht aufs Haar freilich nicht. Vor allem in Großbritannien, einem Land mit ausgeprägt antideutscher Tradition, kokettierten Jugendliche seit den Siebzigerjahren gerne mit Swastikasymbolen und Glatzen. Warum sollten deutsche Jugendliche lassen, was ihre britischen Altersgenossen mit Lust am Tabubruch taten? Unter dem Eindruck neonazistischer Gewalttaten freilich erhält das kokette Spiel mit dem Grusel eine ernste Unternote. Die ironischen Achtzigerjahre sind passee.

Die Vergänglichkeit von Mode freilich birgt auch einen Trost: Mittlerweile ist der Glatzenlook – zumindest in Berlin – zur praktischen Alltagsfrisur für viele (meist proletarische) Männer geworden. Vom Bauarbeiter bis zum Verkäufer in der Textilbranche kann man auf kahlköpfige junge Männer treffen. Millimeterkurzes Haar hat den Nimbus des Bedrohlichen und Soldatischen eingebüßt.

Nach dieser, wie man's also nimmt, martialischen Welle taucht aber bereits ein Silberstreif am Horizont auf: Mittlerweile häufen sich im Straßenbild wieder die harmlosen mittellangen Frisuren der Siebzigerjahre, wie sie etwa im Film „Sonnenallee“ zum Einsatz kommen. Die meisten Eltern werden sich noch lebhaft daran erinnern können, wie sie diese Mode vor Jahren glücklich überwanden. Mode ist ein Bumerang.

Beim Gang in irgend ein Kunstmuseum fällt allerdings auf: Es gibt kaum eine Frisur, die ein komplettes Comeback erlebt hat; allenfalls Anleihen sind zu beobachten. Die römische Cäsarenfrisur etwa drängte sich für den Mann des Klassizismus als Zitat geradezu auf – aber hätte Kaiser Augustus lange Koteletten wie beim jungen Clausewitz geduldet? Und die klassizistischen Koteletten, erlebten sie nicht vor dreißig Jahren in fulminantes Comeback an Jetsettern wie Peter Wyngard alias Hobbydetektiv Jason King? Nun gehörte zu den Koteletten allerdings tuffiges Haupthaar, wie es Uschi „Schätzchen“ Glas damals trug.

Welche Frisuren sich die kommenden Jugendlichen auch ausdenken mögen, eines bleibt: das Wechselspiel von Gruppenzwang und Individuation, von Abgrenzung und Neudefinition. Schließlich winkt eine Belohnung: Über verblüffenden Frisuren können noch immer mürbe Freundeskreise erodieren und intolerante Familien zerbrechen.

Reinhard Krause, Jahrgang 1961, ist seit Sommer vorigen Jahres Redakteur im taz.mag. Er sagt beim Blick in den Spiegel: „Quietschendes Haar? Kann mir persönlich nicht mehr passieren!“