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Die Motoballcrescendi von Kierspe

■ Im Sauerland liegt die Hochburg des Polo der industriellen Kultur

Wozu die Maschinen draußen abstellen, wenn sich mit dem Hinterrad so schöne Gräben in den Platz pflügen lassen?

Kierspe ist eine Metropole, zumindest was die Dichte an Motoball-Vereinen betrifft. Gleich zwei verwegene Bundesligamannschaften, der MBC und die Motor-Sport-Freunde Tornado, liefern sich heiße und laute Lokalderbys. Wie wird solch eine kleine Stadt im Westen des Sauerlandes zu einer Hochburg des Motoballs? Die Erklärung liegt auf der Straße: Kierspe ist mit seinen beiden Stadtteilen Kierspe-Dorf und Kierspe-Bahnhof auf der Längsachse derart ausgedehnt, dass das Motorrad dem Kiersper als natürliches Fortbewegungsmittel erscheinen muss.

Hier ist Motoball ebenso tief verwurzelt wie der Skilanglauf in Skandinavien, denn warum sollte der Kiersper die Motocross-Maschine vor dem Fußballplatz abstellen, wenn sich mit dem Hinterrad so wunderschöne Gräben in die Aschendecke pflügen lassen? Ein Motoballmatch gleicht auf den ersten Blick einem Fußballspiel, jede Mannschaft hat jedoch nur vier Feldspieler, die in gepanzerter Kleidung auf Motorrädern sitzen und das medizinballgroße Spielgerät für rasante Dribblings zwischen Vorderrad und Motorradstiefel klemmen. Dabei kommt es natürlich zu Rangeleien von Motorrad zu Motorrad, weil die Gegner ihr Tor verteidigen und auch gerne den Ball haben möchten. Deshalb herrscht Helmpflicht auf dem Motoballplatz.

Der Torwart besitzt zwar kein Motorrad, trägt aber trotzdem einen Helm. Und er tut gut daran: Wenn ein Spieler bei einem Strafstoß über 50 Meter Anlauf nimmt und mit kreischendem Getriebe beschleunigt, dann befördert sein Schuss den schweren Ball nicht selten mitsamt Torwart in die Maschen. Taktisch lässt sich beim Motoball hauptsächlich die folgende Strategie beobachten: Die angreifende Mannschaft positioniert sich um den gegnerischen Strafraum, und die Spieler wechseln die Positionen, bis sich eine Lücke in den Verteidigungsreihen auftut. Dann geben sie Gas und schießen den Ball ins Tor, oder der Torwart hechtet den Stürmern todesmutig zur Faustabwehr entgegen. Manchmal schlägt ein Angreifer auch eine präzise Flanke in den Strafraum, und sein sorgloser Mitspieler hält den Helm hin, denn auch Kopfbälle sind erlaubt.

Jagt eine Mannschaft der anderen den Ball in der eigenen Hälfte ab, sieht und hört man, dass „Tempogegenstoß“ hier wirklich Tempo bedeutet, denn alle Spieler rasen in einem tosenden Motorencrescendo auf das gegenüberliegende Tor zu. Die Intensität des Spiels ist an dieser Lautstärke abzulesen und nicht an der des Publikums, dessen Anfeuerungen vom Lärm der Maschinen übertönt werden. Die beiden Schiedsrichter tragen weiße Trainingsanzüge aus Fallschirmseide, die mit zunehmender Spieldauer einen schlammfarbenen Ton annehmen, da sie von den Kiesfontänen der beschleunigenden Hinterräder besprenkelt werden. Besonders schmutzig werden Trikots und Schiedsrichteruniformen, wenn es regnet, und in Kierspe regnet es oft.

Lässt man so ein Motoball-Match auf sich wirken, denkt man zwangsläufig an das geheimnisvolle Reitervolk der Mongolen, die ähnliche akrobatische Kampfspiele kennen. Anders als in der Mongolei nimmt in Kierspe das Stahlross den Platz des Pferdes ein, und die Männer beweisen, wie kunstvoll sie mit der Grundlage ihrer Zivilisation, dem motorisierten Fahrzeug, umgehen können. Prinz Charles setzt sich noch mit einem Holzschläger auf einen Wallach und trabt über englischen Rasen, aber beim Motoball macht man sich keine Illusionen mehr: Es ist das Polo der industriellen Kultur.

Bis jetzt haben weder Bernie Ecclestone noch Leo Kirch Interesse an der Vermarktung des wilden Treibens der Motoball-Hasardeure angekündigt. Dabei steckt in diesem Sport ein ungeheures freizeitwirtschaftliches Potenzial, vereinigen sich beim Motoball doch des Mannes größte außersexuelle Leidenschaften: die für Fußball und heulende Motoren.

Christian Kortmann

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