So etwas wie Befreiungsschläge“

■ Richard W. Janney, amerikanischer Linguist in München, über deutsche Jugendliche, die Amokläufe als falsch verstandene US-Mode nachahmen

taz: Die deutschen Medien stellen Amokläufe gerne als „amerikanischen Alptraum“ dar. Sind sie das?

Richard W. Janney: Es ist tatsächlich ursprünglich ein amerikanisches Phänomen. In Amerika gibt es eine lange Tradition von Amokläufen. Das geht zurück auf die Sechzigerjahre und begann richtig, als in Texas ein Student auf den Turm in einer Universität stieg und anfing, auf die anderen Studenten zu schießen. Seitdem sind solche Taten immer häufiger geworden.

Aber was ist in Amerika anders, warum ist das Phänomen dort entstanden?

Es gibt in den USA ein ausgeprägtes Gefühl für Selbstjustiz, natürlich die Nähe zu Waffen – und große Frustgefühle. Eine Rolle spielt auch ein amerikanisches Gefühl für Gerechtigkeit: Wenn jemand etwas aus den richtigen Gründen tut, darf er auch Gewalt anwenden und sich über das Gesetz hinwegsetzen. Für viele Amerikaner ist es verständlich, wenn jemand Demütigungen nicht mehr aushält und Rache nimmt. Deshalb könnte ich mir vorstellen, dass sich viele Amokläufer berechtigt fühlen, so zu handeln.

Warum ist dieses Gedankengut in Deutschland nicht so verbreitet?

Deutschland hat eine ganz andere Gewaltgeschichte. Es liegt sicher auch an der Erziehung in Deutschland, dass Gewalt bis jetzt hier nicht so allgegenwärtig war. Es hat mich immer sehr beeindruckt, dass Auseinandersetzungen meistens verbal geregelt werden, dass die Menschen über Probleme reden können.

Sie sagen „bis jetzt“. Stellen Sie bei deutschen Jugendlichen Veränderungen fest?

Wenn ich die Freunde meines Sohnes sehe, bemerke ich, dass sich etwas ändert. Die Sprachlosigkeit unter den deutschen Jugendlichen wird immer größer. Es geht etwas dabei verloren, wenn es nicht mehr cool ist, zu reden.

Glauben Sie, dass diese Sprachlosigkeit in Zukunft häufiger zu Aktionen wie in Bad Reichenhall führt?

Ich könnte mir vorstellen, dass so etwas noch einmal passiert. Es ist eine unangenehmen Erkenntnis, aber es ist wie eine Modeerscheinung. Man könnte folgenden Vergleich ziehen: Ein Kühlschrank kann in einem Land eine Funktion haben, aber wenn er in eine andere Kultur transportiert wird, kann er zu einem revolutionären Symbol werden. Und ich habe fast das Gefühl, die Amokläufe in Amerika werden in den Köpfen von Jugendlichen zu so etwas wie Befreiungsschlägen hochstilisiert.

Also sind auch deutsche Jugendliche anfällig. Warum lassen sie sich von Taten wie in Littleton faszinieren?

Ich beobachte bei Jugendlichen hier insgesamt eine gewisse Faszination für Gewalt. Etwa die Musik, die auf Feten gespielt wird – und die aus Amerika kommt –, eine sehr gewalttätige Musik, zu der Pogo getanzt wird. Bisher war das stilisierte Gewalt, vielleicht ist das jetzt die Steigerung davon.

Wird die deutsche Jugend amerikanischer?

Sicher, auch durch die oberflächlichen Kulturerzeugnisse. Das Fernsehen hat einen großen Einfluss, das hat sich in den letzten Jahren auch sehr verändert und ist amerikanischer geworden. Man kann aber nicht davon sprechen, dass die deutschen Jugendlichen die amerikanische Kultur eins zu eins übernehmen. Es ist vielmehr so, dass sie sich an höchst unterschiedlichen Phänomenen orientieren, die in Amerika überhaupt nicht zusammengehören. Einerseits werden optisch die schwarzen Ghetto-Kids nachgeahmt, andererseits fasziniert man sich für die weißen Middle-Class-Kids, die diese sinnlosen Taten begehen. Das ist eine gefährliche Mischung.

Interview: Lukas Wallraff