Die Siemens AG kann auch anders

■ Der ehemalige Konsensbetrieb setzt jetzt nur noch auf Rendite – und macht einen Rekordgewinn von 3,64 Milliarden Mark

Der Konzern ist dabei, Bereiche mit einem Umsatz von 17 Milliarden Mark und 60.000 Arbeitsplätzen loszuschlagen

Berlin (taz) – Dauerbaustelle? Schlingernder Riesentanker? Konsensbetrieb mit dem Bewusstsein gesellschaftspolitischer Verantwortung, aber niedriger Rendite? Von wegen: Die Siemens AG kann auch anders. Das belegen die vorläufigen Zahlen für das Geschäftsjahr 1998/99, die Konzernchef Heinrich von Pierer gestern in München herausgegeben hat. Der Gewinn in Höhe von 3,64 Milliarden Mark entspricht nicht nur einem Plus von 37 Prozent gegenüber dem Vorjahr, sondern übertrifft selbst die Erwartungen der optimistischsten Analysten, die mit einer halben Milliarde weniger gerechnet hatten.

Auch die Aktionäre, die von Pierer oft genug ob seines Zögerns, weniger rentable Betriebsteile nicht gleich zu schließen, gescholten haben, dürften zufrieden sein. Erstmals seit Jahren soll die Dividende wieder steigen. Statt 1,50 Mark wird es nun rund 1,96 Mark pro Anteil geben.

Anders sieht es bei den rund 443.000 Beschäftigten aus, von denen etliche wegen der radikalen Umbaupläne des Konzernchefs um ihre Arbeitsplätze oder zumindest die Siemens-Zugehörigkeit fürchten müssen. Eine konkrete Stellungnahme war aus dem durch jahrelange Konsenskultur offenbar widerstandsentwöhnten Betriebsrat allerdings nicht zu bekommen. Der Spiegel hatte in der vergangenen Woche Konzernbetriebsratschef Ralf Heckmann mit der Erklärung zitiert, „Fundamentalopposition bringt uns zur Zeit nicht weiter“. So kann der noch zweitgrößte Arbeitgeber in Deutschland bislang ohne großen Ärger einen radikalen Umstrukturierungsprozess durchziehen. Grundlage ist ein 10-Punkte-Programm, das von Pierer bereits im vergangenen Jahr aufgestellt hat und das jetzt langsam greift. Bis zum Frühjahr 2001 will der ehemalige CSU-Kommunalpolitiker den Konzern zu einem „anderen Unternehmen“ umgewandelt haben. Konzentriert auf wenige Kerngeschäfte, orientiert am Shareholder Value. Hauptsache, der Gewinn steigt schneller als der Umsatz. Von Pierer: „Wir verdienen viel zu wenig Geld.“

Ändern will er das mit strikten Erfolgsvorgaben für alle Geschäftsbereiche und leistungsabhängigen Managergehältern.

Auf der Liste „Desinvestitionen“ stehen Unternehmensteile und -töchter mit einem Umsatz von rund 17 MilliardenMark jährlich und insgesamt 60.000 Arbeitsplätzen. Einige sollen verkauft, andere an die Börse gebracht werden. Und manches ist bereits weg: das Kabelgeschäft, ein Teil der elektronischen Bauelemente, die Computer-Hardware, die in ein großes Joint Venture mit der japanischen fujitsu gegangen ist, die Bankautomaten sowie die Vakuumschmelze. Zur Disposition stehen nach Einschätzung von Analysten auch die Medizin- und die Verkehrstechnik.

Setzt von Pierer alle Pläne um, kann die Siemens AG bis zum Jahr 2001, in dem der Umbau abgeschlossen und der Konzern an die New Yorker Börse gebracht werden soll, mit rund 44 Milliarden Mark außerordentlicher Einnahmen rechnen. Geld, das für den Ausbau der verbleibenden Konzernteile verwendet werden könnte. Dazu gehört dann neben Information, Kommunikation und Industrie auch die Energieerzeugung – obwohl die KWU als einziger Betriebsbereich nicht nur die hochgesteckten Ziele weit verfehlte, sondern nicht einmal den Stand des letzten Jahres halten konnte. Wegen „technischer Probleme“ in Gaskraftwerken verschlechterte sie ihr Ergebnis um 65 Millionen Mark auf ein Minus von 261 Millionen Mark. Im Wartungs- und Servicebereich für die Atomkraftwerke sollen rund 3.000 Arbeitsplätze verschwinden. Trotzdem gab von Pierer ein klares Bekenntnis vor allem zur Atomenergie ab. Ausstiegsdebatte der Bundesregierung hin oder her – an einen Rückzug denke niemand im Vorstand, hieß es.

Tatsächlich gibt es mehr als genug Pläne für neue, brisante Projekte.Wenn der Tschernobyl-Ersatzreaktor K2R4 für die Ukraine doch noch geliefert werden darf – und danach sieht es aus –, sind zwei Folgeaufträge aus Russland zu erwarten. Brasilien wartet auch nur noch auf die Finanzierung des nächsten Reaktors. Und der Bau eines Atomkraftwerks nahe des türkischen Erdbebengebietes ist auch noch nicht vom Tisch.

Beate Willms