Der Fiskus darf mehr als das halbe Gehalt einstreichen

■ Der Bundesfinanzhof erklärt eine Gesamt-Steuerbelastung von über 50 Prozent für zulässig und ignoriert damit das entsprechende Urteil des Karlsruher Verfassungsgerichts

Freiburg (taz) – Das Einkommen von SpitzenverdienerInnen muss weniger geschont werden als zuletzt angenommen. Der Bundesfinanzhof (BFH) in München hat jetzt entschieden, dass eine Gesamtsteuerbelastung von rund 60 Prozent noch zulässig ist. Er setzte sich damit über eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hinweg, das 1995 die Grenze der Steuerbelastung „in der Nähe einer hälftigen Teilung zwischen privater und öffentlicher Hand“ festgelegt hatte.

Geklagt hatte ein Unternehmerehepaar aus Nordrhein-Westfalen, das für Einkommen- und Gewerbesteuer insgesamt 60 Prozent seines (zu versteuernden) Einkommens an den Fiskus abführen musste. Unter Berufung auf den Karlsruher „Halbteilungsgrundsatz“ forderte das Paar eine deutliche Reduktion seiner Einkommensteuer, scheiterte jedoch nicht nur vor dem Finanzgericht Düsseldorf, sondern jetzt auch vor dem Bundesfinanzhof, dem höchsten deutschen Finanzgericht.

Der BFH sah sich dabei nicht an das Urteil des Verfassungsgerichts gebunden. Zur Begründung hieß es, im Karlsruher Verfahren sei es nicht um die Gesamtsteuerbelastung gegangen, sondern vielmehr um die Bewertung von Grundstücken für die damals noch bestehende Vermögensteuer. Der dabei vom Zweiten Senat entwickelte „Halbteilungsgrundsatz“ sei also nur eine unverbindliche Nebenbemerkung gewesen, kein „tragender Grund“ des Urteils.

Die Münchener Finanzrichter gehen noch weiter. Unverblümt erklären sie, dass dem Grundgesetz ein Halbteilungsgrundsatz gar nicht zu entnehmen sei. Wenn es in der Verfassung heiße, das Eigentum diene „zugleich dem Wohle der Allgemeinheit“ könne dies nicht so ausgelegt werden, dass das Einkommen maximal „zu gleichen Teilen“ zwischen Staat und BürgerIn aufzuteilen ist. Mit anderen Worten: Der BFH hält die Karlsruher Rechtsprechung nicht nur für unverbindlich, sondern auch inhaltlich für falsch.

Das Verfassungsgericht wird allerdings noch Gelegenheit haben, hierauf zu antworten. Denn die Kläger, die vom neoliberalen Arbeitskreis selbständiger Unternehmer (ASU) unterstützt werden, haben bereits eine Verfassungsbeschwerde gegen das BFH-Urteil angekündigt. Allerdings wird der Erfinder“ des Halbteilungsgrundsatzes, Richter Paul Kirchhof, an einer neuen Karlsruher Entscheidung nicht mitwirken, seine Amtszeit geht in wenigen Wochen zu Ende. Es könnte durchaus sein, dass Karlsruhe – in neuer Zusammensetzung – seine umstrittene Rechtsprechung bald selbst beerdigt. Bis eine neue Entscheidung getroffen ist, können allerdings einige Jahre ins Land gehen. Bis dahin ist das BFH-Urteil maßgebend.

Bewegung könnte die BFH-Entscheidung auch in die Diskussion um Wiedereinführung der Vermögensteuer bringen. Unter Berufung auf den Halbteilungsgrundsatz war dies von vielen PolitikerInnen als verfassungswidrig abgelehnt worden. (Az.: XI R 77/97) Christian Rath