piwik no script img

Seid intelligente Browser!

Keine Zeit, um nur eine Idee zu haben! Marshall McLuhan, „Orakel der elektronischen Medien“, war zugleich der erste Popintellektuelle. Eine neue Biografie zeigt ihn als Marodeur in den Ordnungen des Wissens  ■   Von Thomas Groß

Als Herbert Marshall McLuhan sich 1930, auf der elterlichen Toilette sitzend, die Frage nach dem innersten Zusammenhalt der Welt stellte, boten sich traditionelle Wege des Wissens: Theologie, Philosophie, Geschichtswissenschaft. Der junge McLuhan beschritt sie mit der ihm eigenen Ernsthaftigkeit alle. Dass er keinen zu Ende ging, dies aber mit beispielloser Konsequenz, war für seine Entwicklung zum „Orakel der elektronischen Medien“ maßgeblich.

Die intellektuelle Gestalt, die er dabei in die Welt setzte, hat Timothy Leary zu dem Bonmot inspiriert, McLuhan denke in Kreiseln und Spiralen, in Blumenmustern und Mandalas. Für Neil Postman war er der erste Autor, „der aus den Worten Platon, Erasmus, Batman und Beatles einen in sich stimmigen Satz bilden konnte“. Von heute aus formuliert: Herbert Marshall McLuhan, Jahrgang 1911, ein Mann, der sein Wissen zu gleichen Teilen aus Reader's Digest, der britischen Romantik, dem Fernsehen, von Thomas von Aquin und der Nasa bezog, es aber nach höchst eigenem Muster verdaute, war der erste Popintellektuelle.

Ohne McLuhans Willen zum Crossover nämlich, so legt eine gerade auf Deutsch erschienene Biografie nahe, hätte es eben bloß zum „Spezialisten“ gereicht – und das entsprach nicht dem inneren Karriereziel. Philip Marchand, kanadischer Publizist und Autor eines Kriminalromans, beschreibt seinen Landsmann respektvoll, aber unhagiographisch als Interessen-Allrounder und Stegreif-Denker, als letzten Universalgelehrten im Grunde, der aus Verzweiflung über die sich abzeichnenden Grenzen der Einzeldisziplinen zum Marodeur in den Ordnungen des Wissens wird. Die Zeit ist einfach zu knapp, um nur eine einzige Idee zu haben!

Ein Herkunftskomplex spielt für die Laufbahn von „Kanadas geistigem Kometen“ allerdings auch eine Rolle. Zumindest den Vorteil habe es, „wenn man aus dem tiefsten Westen kommt“, pflegte McLuhan sich selbst zu ermuntern: „Man lebt nicht in der Illusion, Bildung mitbekommen zu haben.“

Cowboydenkstil im Angesicht des Teufels

Sich diese Bildung auf die Rippen zu schaffen ist das Projekt der frühen Jahre. Aus Briefen, Tagebüchern und Gesprächen entwirft Marchand das Bild eines Jünglings in Tweed, der sich vornimmt, täglich drei neue Wörter zu lernen, schöngeistige Literatur vom Stapel weg liest, „Perzepte“ daraus destilliert und sich so rasch zum gefürchteten Diskussionsanzettler entwickelt, aber eine leicht provinzielle Anmutung nicht los wird. Von Pop zunächst keine Spur: Wo McLuhan die Auswüchse der modernen Zeiten studiert, tut er dies wie ein Theologe im Angesicht des Teufels. Seine Ansichten über Frauen sind, gelinde gesagt, konservativ. Auffällig ist bloß ein Zug ins Sophistische, eine Betonung des Formalen und Rhetorischen, die er von seiner Mutter mit auf den Weg bekam, einer engagierten Deklamatorin populärer Gedichte.

Man kann McLuhans geistige Entwicklung als sukzessive Eliminierung der Inhalte lesen. Beim Studium der Kirchenväter stößt er auf verschüttete Traditionen der Rhetorik, die seit Einführung des Buchdrucks von Logik, Dialektik und „Sinn“ dominiert wurden. Auf dem Umweg über den New Criticism, der der traditionellen Schöngeisterei an den Universitäten den Garaus machte, indem er die Formanalyse in den Vordergrund rückte, findet McLuhan, mittlerweile Professor in Toronto, allmählich zu einer „grammatischen Position“. Stop making sense! Es dämmert ihm, dass die Dichter uns viel weniger sagen wollen, als die herkömmliche Hermeneutik glauben macht, er begreift, dass die Form in der Moderne zum eigentlichen Inhalt aufrückt, über den das Schreiben wirkt. Wenn aber, nach einem Wort von T. S. Eliot, der „Sinn“ eines Gedichts bloß das Stück Fleisch ist, mit dem der Autor den Leser ködert wie ein Einbrecher den Haushund, ist es nur einen Schritt hin zur Entdeckung der Medialität selbst.

Dass McLuhan ihn machte, spricht für sein Genie als Entdecker. Er überquerte eine Grenze, die viele bis heute nicht einmal sehen wollen, und betrat ihn: den neuen Wissenkontinent. Biografisch gesehen sind genial simple Aphorismen wie „Das Medium ist die Botschaft“ aber auch ein später Widerschein der kanadischen Prärie. Sie kreisen um ein Motiv der Leere: die Herkunftslandschaft, den (Nord-)Westen, das Anti-Europa, in das McLuhans Vorliebe für die Techniken der Alten Welt schließlich umschlägt. Nicht umsonst ist ihm intellektueller „Cowboystil“ nachgesagt worden. Der Autor wütet als Selberdenker so lange mit interdisziplinärer Wucht in den Gärten des Wissens, bis der Horizont wieder sichtbar wird. An seinen äußersten Grenzen macht er, noch vor dem ganzen Trubel um Pop und Op, das „globale Dorf“ aus.

Es hat etwas Ironisches, dass ausgerechnet dieses umwegige, springende, gelegentlich holzfällerähnliche Denken in den elektrischen Sechzigern zum Modeartikel aufsteigt. Plötzlich sind McLuhans Einsichten Tagesgespräch: dass Medien Ausweitungen des Körpers sind; dass sie eigengesetzlich wirken (nicht über „Inhalte“) und hypnotischen Charakter haben; dass technische Innovationen wie der Buchdruck oder das Fernsehen entscheidende Veränderungen in der Wahrnehmungsweise mit sich bringen, und zwar unabhängig vom Willen des Einzel-Users. Schließlich: dass „der Mensch“ im europäisch-humanistischen Sinne ein Produkt und Bewohner der „Gutenberg Galaxis“ ist, einer Distanz ermöglichenden Technik, die dahinschwindet zu Gunsten eines Zeitalters, in dem das Stammestum wiederkehrt und sämtliche Sinnesfunktionen wesentlich stärker mit technischen Apparaten verschaltet sind. Es leuchtet ein, dass eine Gesellschaft im Aufbruch entlang der McLuhanschen Thesen Selbstvergewisserung sucht, dass sie einen „Propheten“ braucht, der die durch den Siegeszug des Populären entstandene Verwirrung in Formeln kleidet, und McLuhan selbst kommt diesem Schema nach, indem er sich mit wachsender Begeisterung vom konservativen Warner zum nüchternen Analytiker wandelt.

Bei Bart und Krone des Propheten

„Seid intelligente Browser!“, empfiehlt er seinen Studenten, funktioniert Seminare zur permanenten Newsgroup um und stürzt sich mit nie nachlassender Energie auf die geringsten Details des Alltags – von Daisy Duck bis hin zum Striptease. Trotzdem gesteht er 1965, auf der Höhe seines Ruhms, dem Interviewer des Playboy, eine solide, unveränderliche Welt mit bescheidenen Dienstleistungen sei weit eher seine Sache. Im Gespräch mit dem Kritiker Richard Kostelanetz fällt der Satz: „Das Ziel meiner Untersuchungen ist die Beherrschung des Wandels.“

Marchand deutet dieses Motiv vorsichtig als „männliche“ Selbstbehauptung angesichts einer „weiblich“ verstandenen Medienumwelt: Wer weiß, wie dominant McLuhans Mutter Elsie, die Deklamatorin mit der schneidenden Radiostimme, in der Familie auftrat, fühlt mit, dass die Aussicht, in einen „Servomechanismus der Technik“ verwandelt zu werden (so lautet die entsprechende Wendung in McLuhans erstem Buch „Die mechanische Braut“), nicht nur euphorisierende Aussichten eröffnete. Man kann das Bestreben, des Wandels Herr zu werden, aber auch mit Klaus Theweleit als Griff des Intellektuellen nach der Krone begreifen. Für diese Variante spricht, dass McLuhan Zeit seines Lebens auf der Suche nach Bündnispartnern war, die seine Karriere voranbringen sollten. Unablässig testet er Koalitionen aus, schickt Briefe an einflussreiche Persönlichkeiten, wechselt das philosophische Standbein, integriert die eigene Ehefrau in seine Ideenproduktionsmaschinerie, bis er endlich, vom Zeitgeist begünstigt, am Machtpol angekommen ist.

McLuhans Denkfabrik in den Sechzigern ähnelt nicht nur einem kleinen Hofstaat – mit ihm selbst als Geistesfürsten –, er verkehrt auch in der großen Welt wie bei Hofe. Pierre Trudeau, der kanadische Präsident, lässt sich von ihm Tipps zur Verbesserung seines Images liefern. Industriemanager laden den „Medienguru“ zu groß angelegten Consultings. Selbst John Lennon zeigt sich nicht desinteressiert. McLuhan ist wie besessen von der Vorstellung, ins Getriebe der großen Maschine eingreifen zu können, zu kühnsten Zeiten träumt er davon, das globale Dorf nach Belieben qua medialer Manipulation „aufheizen“ und wieder „abkühlen“ zu können. In seiner geistigen Physiognomie dämmert Norbert Bolz herauf. Allerdings gerät sein Ideenfluss dabei leicht außer Kontrolle, und er verliert den Blick dafür, dass die Mächtigen ihn bloß in momentaner Verunsicherung als Hofnarren dulden. Tom Wolfe hat den Slogan dafür geprägt: „Was wäre, wenn er Recht hat.“

Von der elektrischen zur himmlischen Braut

Nun: McLuhan hat in vielem Recht behalten, die Welt wird tatsächlich unablässig medial beheizt – vielleicht wollte sie ihm deshalb nicht auf Dauer zuhören. Die Siebziger sehen ihn als enttäuschten Visionär, der in seiner kanadischen Denkstube über dem zwiespältigen Wesen des Medienwerks grübelt. Mit einem Mal ist er wieder der kindliche Gottsucher, der zwischen Himmel und Hölle oszilliert. Wie kann der „diskarnierte Mensch“ – so nennt er den humanen Prothesengott in seiner elektronischen Einsamkeit jetzt – aus den Fragmenten wieder auferstehen? Wie kann doch noch alles eins und heil werden? In einem letzten Anlauf behauptet er die Evolution des Organischen in Richtung Parusie (Wiederkehr des Herrn): Es sei der Computer, der das Versprechen eines technologisch induzierten Zustands universellen Einverständnisses in sich trage. Nach christlichem Verständnis – ein Kryptokatholik und Medienmetaphysiker blieb McLuhan immer – handele es sich dabei um nichts anderes als „eine neue Interpretation des mystischen Leibes Christi. Und Christus ist schließlich die höchste Ausweitung des Menschen.“

Nach dieser Erkenntnis, die haarscharf am aktuellen Techno-Mystizismus vorbeischrammt, ereilte Herbert Marshall McLuhan ein Hirnschlag, der sein Sprachzentrum lähmte. Glaubt man Marchand, klang alles, was er noch sagen konnte, wie „Wuhwuh“ („Voodoo“?). In seinen letzten Tagen musste man ihn wieder auf dasselbe Töpfchen tragen, das er so konsequent zum Thron ausgebaut hatte. Beim Betrachten von Buster-Keaton- und Marx-Brothers-Filmen soll er allerdings so laut gelacht haben, dass den Krankenschwestern Angst wurde.

Philip Marchand: „Marshall McLuhan. Botschafter der Medien“. DVA 1999, 58 DM

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen