Rotschwarze Kanalarbeiter

Vor zehn Jahren musste er widerwillig Abschied nehmen: Karl-Eduard von Schnitzler, Kommentator des „Schwarzen Kanals“. Jenseits seiner Mauer ein absurdes Double: Gerhard Löwenthal, meinungsstark beim „ZDF-Magazin“. Reminiszenzen von Kathrin Gerlof

Ein letztes Mal: „Guten Abend, meine Damen und Herren, liebe Genossinnen und Genossen.“ – Am Abend des 30. Oktobers 1989, neun Tage bevor in Berlin die Mauer geöffnet wird, findet ein televisionäres Zeitalter sein abruptes Ende. Der „Schwarze Kanal“, seit 1960 montägliches Instrument der sozialistischen Erwachsenenbildung in der DDR, wird letztmals ausgestrahlt. Nach dem Film „Der blaue Engel“ erhält Karl-Eduard von Schnitzler, Chefkommentator des DDR-Fernsehens, genau fünf Minuten Sendezeit, um sich von seinen Zuschauern nach 29 Jahren intensiver Überzeugungsarbeit zu verabschieden.

Zu diesem Zeitpunkt werden auf den Straßen der DDR, die nicht länger die Straßen des Sieges sind, bereits die Parolen skandiert, die Schnitzler in die Hölle oder – weniger schlimm – in die „Muppet Show“ wünschen: „Versetzt die alte Lügensau schnellstens in den Tagebau“, „Schnitzler weg – Lügendreck“. In dieser Sendung irrt sich Schnitzler ein letztes Mal: „Es bedarf also der Kunst, das Richtige richtig und schnell und glaubhaft zu machen. In diesem Sinne werde ich meine Arbeit als Kommunist und Journalist fortsetzen, als Waffe im Klassenkampf zur Förderung und Verteidigung meines sozialistischen Vaterlandes. Und in diesem Sinne, meine Zuschauerinnen und Zuschauer, liebe Genossinnen und Genossen, auf Wiederschaun.“

Ein Wiedersehen gibt es nicht, denn in diesen Tagen verschwindet die DDR mit ihm. Ein Jahr später erfüllt sich der jahrzentelange Traum eines anderen Kommentators, der seit 1969 und 585 Sendungen lang eifrig die Rolle von Schnitzlers Widersacher spielte: Gerhard Löwenthal, Moderator des „ZDF-Magazins“, darf sich 1990 darüber freuen, dass sich Deutschland wieder einig ist. Löwenthals Traum und Schnitzlers Alptraum: Die DDR hat sich selbst überflüssig gemacht, und ein Mann wie von Schnitzler, der sie bedingungslos liebte, trug ebenso tatkräftig dazu bei wie Gerhard Löwenthal, der sie abgrundtief hasste.

Heute weiß man: Schnitzler hatte das Pech, das Reden über die DDR weitgehend seinem Gegenspieler Löwenthal überlassen zu müssen. So schätzt man, dass das „ZDF-Magazin“, in seiner propagandistischen Machart dem DDR-Pendant mehr als verwandt, in der DDR Einschaltquoten von dreißig bis fünfzig Prozent hatte. „Der Schwarze Kanal“ brachte es im Schnitt auf vierzehn Prozent.

Dabei begann für Karl-Eduard von Schnitzler (Schimpfname: Sudel-Ede) am 21. März 1960 alles so verheißungsvoll: „,Der schwarze Kanal‘ führt Unflat und Abwässer. Aber statt auf Rieselfelder zu fließen, ergießt er sich täglich in hunderttausende westdeutscher und Westberliner Haushalte. Es ist der Kanal, auf welchem das westdeutsche Fernsehen sein Programm abstrahlt – der ,Schwarze Kanal‘. Von heute ab werden wir uns ihm, an jedem Montag zu dieser Stunde, gewissermaßen als Kläranlage widmen – im übertragenen Sinne.“

Der Schwarze Kanal“, das muss man zugeben, war die einfachste und zugleich wirkungsvollste Erfindung televisionärer Auseinandersetzung mit dem Klassenfeind. An der Echtheit der Zitate war nicht zu zweifeln, und jedes einzelne ersetzte die Bezichtigung. Es konnte, aus dem Zusammenhang gerissen oder gar im Zusammenhang belassen, Wunder wirken. Es erlaubte eine pointierte Gegenüberstellung und die nachvollziehbare Entwertung eines vorangegangenen Zitats sowie die ständige Aufwertung des eigenen Arguments.

Schnitzlers Sendung war in ihrer Machart billig und im Effekt aufregend – in jeder Beziehung. Der Einstieg in den Kanal änderte sich im Laufe der vielen Jahre nur geringfügig: Eine Kröte von Bundesadler fliegt auf eine Fernsehantenne zu, begleitet von einer schrillen Adaption des Deutschlandliedes – „Einigkeit und Recht und Freiheit“ –, der flügellahme Adler landet auf der Antenne, der Schriftzug der Sendung wird eingeblendet, dann erscheint er: Karl-Eduard von Schnitzler. Aber nur wenige Menschen im Westen empfingen überhaupt DDR-Fernsehen, und noch weniger schauten sich den Schnitzler freiwillig an. Für die Gläubigen an der ideologischen Front war der „Schwarze Kanal“ hingegen eine Waffe im alltäglichen Kampf gegen feindliche Auffassungen.

Eines war allerdings von Anfang an unklar: Wie sollten Funktionäre angesichts der Tatsache, dass man Westfernsehen offiziell nicht sehen durfte, über den manipulativen Charakter von Westsendungen diskutieren? So wurde Schnitzler zum Kommandanten einer Bastion im Kampf gegen eine Manipulierung, die offiziell gar nicht stattfinden konnte, weil es verboten war, sich manipulieren zu lassen. Im Westen hingegen war auch das erlaubt, und Löwenthals Magazindebüt fiel Anfang 1969 nicht weniger verheißungsvoll aus: Am 8. Januar 1969 sitzt der Magazinist etwas verkrampft, aber live im Studio und verkündet, was von nun ab jede Woche zu sehen sein wird: wahrheitsgemäße Informationen, aufgebaut auf sorgfältiger journalistischer Recherchearbeit, furchtlose Stellungnahmen.

„Wir werden nach den schadhaften Stellen unserer Demokratie schauen, unser Haus ausbessern, nicht abreißen. Extremisten von links und rechts werden in uns entschlossene und wachsame Gegner finden.“ Der Gegner stand allerdings von vorneherein fest: „Das erste große Thema, das mich im ,ZDF-Magazin‘ in besonderer Weise beschäftigen sollte (...), war die sogenannte ,Neue Ostpolitik‘ von Bahr und Brandt, die (...) zur Expansion des sowjetischen Imperialismus in den Siebzigerjahren führte“, gibt Löwenthal später freimütig zu.

Gerhard Löwenthal, das wird immer so bleiben, bewegt sich vor der Kamera kaum. Im Gegensatz zu seinem Widersacher im DDR-Fernsehen, der manchmal den furchtbaren Eindruck erweckt, er könne einem jeden Moment ins Wohnzimmer springen, sitzt Löwenthal, als hätte man ihn vor Sendebeginn festgeleimt. Alle Bewegung übernimmt die Kamera. „Dass auch der Humor nicht zu kurz kommen soll, werden Sie bereits am Ende der Sendung erfahren“, verkündet Löwenthal bei der Premiere und grinst etwas schief. Da glaubt man ihm schon zum ersten Mal kein Wort.

Diese Sendung, das lassen bereits die ersten fünf Minuten ahnen, ist nicht geschaffen, um einen zum Lachen zu bringen. Im Gegensatz zum kostengünstig produzierten „Schwarzen Kanal“ basierte das „ZDF-Magazin“ auf der klassischen und relativ aufwendigen Abfolge von Anmoderation, Beitrag, Abmoderation. Die Sprache der Männer war von Anbeginn an heroisch und sollte immer heroisch bleiben. Karl-Eduard von Schnitzler fiel ihr stets wieder anheim, Gerhard Löwenthal trieb einem die Tränen in die Augen, wenn sie ihn ergriff. Dem einen war das Vaterland des anderen immer „menschenverachtend“, während der andere „Diktatur“ ohne den Zusatz „brutal“ gar nicht auszusprechen vermochte.

Bei den Kommunisten hatten die Polizisten und die verbalen Eiferer der Gegenseite meist „blutunterlaufene Augen“, und er war davon überzeugt, dass „Dienst am Frieden vermittels der Wahrheit keine Hetze sein“ kann: „Auf den Wahrheitsgehalt, auf die gute Absicht, auf das hohe Ziel kommt es an.“ Der andere beschrieb sich, welch hartes Schicksal, als „einsame Stimme im linkskonformistischen Meer der deutschen Publizistik“. Angst oder Zweifel, Verzweiflung gar, tauchten bei beiden niemals auf. „Asche gehört aufs Glatteis oder in die Urne, nicht aufs Haupt“, sagt Schnitzler bis heute und gönnt sich in all seinen Büchern insgesamt nur drei Seiten unter der Überschrift „Selbstkritik“. Bei Löwenthal, der ebenfalls gerne über sich geschrieben hat, kommt das Wort erst gar nicht vor. Gerhard Löwenthal und Karl-Eduard von Schnitzler waren Gegenspieler, die man schlimmer nicht hätte erfinden können, und sie waren Produkte einer eisigen Zeit, die sie allerdings nach Kräften noch frostiger machten.

Und doch gab es von Anfang an Gemeinsames: Als die beiden Männer ins politische Leben eintraten, taten sie dies noch, um demselben Gegner zu widerstehen. Der eine, der Jude Gerhard Löwenthal, wollte seine Verwandten, seine Freunde und sich selbst lebend durch das Tausendjährige Reich bringen. Der andere, der Adlige Karl-Eduard von Schnitzler, verließ seine Familie, weil er es nicht ertrug, dass sie solche wie die Löwenthals in die Gaskammern schicken wollte. Und es gibt Geschichten: Mitte 1942 unterstützt Gerhard Löwenthal in Berlin eine Gruppe aus dem Untergrund, die gefährdeten Menschen hilft, der Gestapo zu entkommen. Ausweise werden gefälscht, Fluchtmöglichkeiten gesucht. Die Gruppe fliegt 1943 auf, Gerhard Löwenthal wird verhaftet und entgeht nur durch Glück seiner Hinrichtung. 1938 will Schnitzler in Freiburg noch Arzt werden, wie Gerhard Löwenthal einige Jahre später auch. Der Aufforderung, Mitglied des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes zu werden, kommt er nicht nach und wird relegiert. Bevor er Freiburg verlässt, rettet er einer Halbjüdin das Leben, indem er sie mit seinem Motorrad über die Grenze in die Schweiz fährt.

Kled – so sein Spitzname – zieht zu der wenig geliebten Familie nach Köln und arbeitet heimlich als Fluchthelfer für politisch und rassisch Verfolgte. Köln und Berlin trennen sechshundert Kilometer. Man kann sich einen Augenblick lang vorstellen, dass es die Familie Löwenthal nach Köln verschlägt, den Gedanken denken, sie hätten fliehen können vor der Todesangst, und ein siebzehnjähriger Jude hätte glücklich auf dem Sozius eines einundzwanzigjährigen Kommunisten gesessen. Wären sie unbeschadet über die Grenze gekommen, hätten sie sich vielleicht die Hand geschüttelt und sich Lebewohl gesagt, um sich viele Jahre später als verfeindete Frontsoldaten in einem Krieg wiederzubegegnen, der kalt genannt werden sollte. Dann hätten sie sich vielleicht des Handschlags erinnert ...

Viele Jahre später wird Karl-Eduard von Schnitzler in einem Interview über Gerhard Löwenthal sagen: „Ich hasse ihn nicht, ich verachte ihn. Das ist kein Journalist, kein Charakter. Wie der als Halbjude so unangetastet durchs Dritte Reich kam? Leider konnte unsere Aufklärung das nicht rauskriegen.“ Da ist Schnitzler längst kein Held mehr, sondern ein alter Mann, der über einen anderen alten Mann etwas Grauenvolles sagt. In gewisser Weise scheinen Löwenthal und Schnitzler dafür gesorgt zu haben, dass die (alte) Mitte funktionierte.

In gewisser Weise konnte Löwenthal einen mit der DDR versöhnen, und Schnitzler ließ einem den Westen golden erscheinen – als wäre der eine jeweils der heimliche Ghostwriter des anderen gewesen. Die Wahl zwischen DDR-Fernsehen Montagabends und dem ZDF zwei Tage später war immer auch ein wenig die Wahl zwischen Pest und Cholera. Aber gut gemeint haben es beide, und beide haben sich im Laufe der vielen Fernsehjahre nicht verändert, als seien Propagandasendungen der beste Jungbrunnen überhaupt.

Bis heute, ins hohe Alter hinein, hält sie der unerschütterliche Glaube an ihre Sache aufrecht. Doch was für beide von Anfang an galt, gilt heute mehr denn je: In einer Welt wie dieser ist kein Platz für beide. Ihre Unversöhnlichkeit ist beeindruckend, ihre Ähnlichkeit frappierend: Die Brüche im Leben geraten zur geplanten Aktion, das Scheitern wird zum Sieg stilisiert, aus Irrtümern entstehen Heldengeschichten. Man kann von ihnen lernen: Manche Mittel machen den Zweck überflüssig. Manche Kämpfer verdienen keinen Sieg. Manchmal tun zwei das Gleiche. Und das ist es dann auch.

Kathrin Gerlof, 36, lebt als freie Journalistin in Berlin. Von ihr ist soeben die Doppelbiografie „Gerhard Löwenthal – Karl Eduard von Schnitzler“ in der Reihe „GegenSpieler“ (Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 1999, 160 Seiten, 16,90 Mark) erschienen