: Stinos Stadtburgen
Die Leistungen des ostdeutschen Wohnungsbaus in der Berliner Innenstadt bleiben bis heute unerreicht. Teil III der taz-Serie „DDR-Architektur“ ■ Von Hans Wolfgang Hoffmann
Der Schwenkhahn. Es gab ihn millionenfach, aber in jedem Bad höchstens einmal. Exzentrisch montiert und bis zum Anschlag gedreht, vermochte er Wanne wie Waschbecken zu füllen. Er war nicht einfach nur ein durchkonstruiertes Detail. In der Ausstellung „Einigkeit und Recht und Freiheit“, der offiziellen Rückschau auf fünfzig Jahre Nachkriegsdeutschland, hatte er gleich zu belegen, dass der Alltag in der DDR von „Entbehrung und Überwachung“ geprägt war, zumindest zeugte er von allen Irrwegen des ostdeutschen Wohnungsbaus. Indem der Schwenkhahn eine Installation sparte, bestätigte er den schlechten Wohnstandard. Sein Verbreitungsgrad stand für das Gegenteil von Individualität, sein nur praktisches Design für eine alles andere als verfeinerte Ästhetik. Zudem gehörte er zur Wohnungsbauserie 70, mit der die DDR all ihre Energien zur Lösung der Wohnungsfrage auf den Neubau konzentrierte, sich dabei Folgeprobleme einhandelte, weil sie die Pflege des Bestandes so lange vernachlässigte, bis die Gefahr real wurde, dass er unbewohnbar würde. Mit ihr türmte sie Großsiedlungen am Stadtrand auf, in denen sich alle aus Gründerzeitquartieren vertrauten Defizite genauso wenig wiederfinden lassen wie ihre wie Stärken: Zentrumsnähe, urbane Dichte, Raumqualität.
Die Leistungen des DDR-Wohnungsbaus erschließt der Schwenkhahn indes genauso wenig wie seine Besonderheiten. Tatsächlich liefen die Herangehensweisen in Ost und West diametral entgegen. In der kollektiven DDR war Wohnungsbau zwar eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe von höchster Priorität, die einzelne Wohnung jedoch kaum relevant. Man entwarf sie von außen nach innen. Vom Öffentlichem zum Privaten bewegte man sich in abnehmender Priorität. Im individualistischen Westen verlief der Prozess umgekehrt: Das Heim war die Keimzelle der pluralistischen Gesellschaft. All ihre inneren Verwerfungen manifestierten sich in Wohnungsvarianten.
Selbst in den eigenen vier Wänden, für welche die DDR-Architekten kaum Ambitionen entwickelten, brachte dieses Vorgehen Vorteile. Die Projektanten nahmen das konstruktive Raster, stellten die Nasszellen in die dunkle Mitte, die für den Aufenthalt eh am wenigsten geeignet ist, teilten die übrige Fläche, und fertig war die Laube. Die DDR-Wohnungen waren Freiheitsinseln für stinknormale, neutral gestaltete Resträume und den hochgeschätzten Mietskasernen der Gründerzeit damit näher als die westlichen Versionen. Für Architekten dort war der Grundriss ein Feld, auf dem sie sich richtig austoben konnten: Sie entwarfen für Singles oder Paare, Klein- oder Großfamilien, Lebensgemeinschaften oder allein Erziehende, für Alte, Behinderte, Ausländer, Studenten, für fast jede erdenkliche Randgruppe optimierte Wohnmaschinen, selbst auf die Gefahr hin, dass sich diese Maßanzüge schon bald in Zwangsjacken verwandelten, die ihren Inhabern nicht mehr passten.
Mehr Aufwand unternahmen die DDR-Baumeister bereits vor der Wohnungstür. Erschließungsfläche galt ihren Westkollegen als Distanz, die möglichst schnell und effizient überwunden sein musste und die sie folglich als Transitraum gestalteten. Im Osten sah man darin ein kollektives Wohnzimmer. In der P2-Serie, aus der auch die Wohnscheiben am Fernsehturm hervorgingen, steigerte man ihre gemeinschaftsfördernde Wirkung, in dem man die Wege möglichst vieler Nutzer zusammenführte, Aufzüge nur in jedem dritten Geschoss halten ließ und die Apartments über lange Gänge erschloss. Anders als im Westen, wo diese Typologie ungleich seltener Verwendung fand, verschwanden sie nicht tunnelartig in der Tiefe des Gebäudes, sondern lagen als lichte, interne Straßen an seiner Fassade. Wände und Böden von Treppenhäusern und Fluren wurden mit den gleichen Mitteln wie die Wohnungen ausgestattet. Tapeten und PVC waren bescheidener als die Materialien in den Foyers gründerzeitlicher Mietshäuser, doch die Absicht war dieselbe.
Noch eindeutiger geht der Vergleich zugunsten der DDR-Architektur aus, tritt man vor die Haustür. Man braucht gar nicht erst auf die am häufigsten gebauten Typen (im Westen das Einfamilienhaus, im Osten die Großsiedlung) zu verweisen – in puncto Stadtraumprägung haben DDR-Wohnungsbauten auch in der Innenstadt die Nase vorn. Wohnungsbau war Städtebau und umgekehrt. An der Stalinallee oder in der Karl-Liebknecht-Straße entstanden durch ihn nicht einfach Straßen, sondern die letzten Boulevards Berlins. Mit den Rathauspassagen am Fernsehturm oder den Spreeterrassen an der Friedrichstraße Ecke Spree schuf die DDR erstklassige Adressen, in denen ein Höchstmaß an Identifikation der Bewohner mit ihrer Stadt mit eingebaut ist.
In westlichen Städten findet man nichts Vergleichbares. Das Phänomen der Zentren aller westlicher Städte ist Citybildung: kommerzielle Nutzungen dominieren. Wo Wohnungsbauten das Stadtbild bestimmen, befruchten sie es nicht. In Berlin gibt kein Bewohner das Hallesche oder Kottbusser Tor gerne als seine Adresse an. Mit dem Hansaviertel brachte die Internationale Bauausstellung der Fünfzigerjahre zwar ein städtebauliches Ausrufezeichen hervor, urban war es keinesfalls. In jedem Fall spielten sich alle Projekte etwas größerer Stückzahl nur in 2b-Lagen ab: Am Breitscheidplatz trifft man auf Wohnungsbauten der Nachkriegszeit erst in nicht mehr fußläufiger Entfernung. Selbst der mengenmäßige Vergleich geht zugunsten der DDR aus: Während die Zahl der Wohnungen in den drei Ostberliner Innenstadtbezirken zwischen 1970 und 1990 gehalten wurde, brach sie in Kreuzberg, Tiergarten und Wedding um acht Prozent ein.
Noch erstaunlicher ist, dass auch das vereinte Berlin nicht an die Leistung der DDR herankommt, das Wohnen in der Innenstadt für Durchschnittsverdiener baulich zu stärken, obwohl genau dieses Thema von der Politik pausenlos propagiert wird. Das Studentenwohnheim von Gabriele Ruoff am Augustenburger Platz, dessen Glasfassade sowohl östlich-offensiv wie westlich-verteidigend mit dem Stadtraum umgeht, ist die Ausnahme, welche die Regel bestätigt. Nur in Peripherien wie Karow-Nord oder Buchholz-West wurden Mengen an Wohnungen gebaut, die wenigstens formal so städtisch daherkommen, wie man das im Herzen der Metropole erwarten würde. Im Bezirk Mitte fiel die Erweiterung des Bestandes in dem Jahren nach der Wende nur rund halb so hoch aus wie im gleichen Zeitraum davor. Dort brachte der Pflichtanteil von zwanzig Prozent, den der Senat Investoren auferlegte, nur architektonische Lückenbüßer oder Penthäuser hervor, von denen kaum ein Beitrag zur Urbanität ausgeht. Wenn jetzt die Bauverwaltung mit „städtischen Wohnpalais“ erstmals über veritable Stadthäuser nachdenkt, hat sie als Zielgruppe nur die Superreichen im Auge.
Das Haupthindernis, das sich zwischen dem Normalbürger und einer Neubauwohnung in der Innenstadt auftut, sind ihre hohen Kosten. Auch zu seiner Überwindung ließe sich einiges von der Baupolitik der DDR lernen. So wie der Staat damals seine wertvollsten Ländereien zur Unterbringung seiner Bürger einsetzte, könnte es noch heute geschehen, denn der größte Teil des Bodens, den DDR-Institutionen bevorrateten, gehört immer noch ihren Rechtsnachfolgern. Solange aber die Fiskalpolitik keine Rabatte zulässt, muss man sich auf den zweiten Faktor konzentrieren: die Baukosten. In der DDR war es in den 80er-Jahren möglich, eine Wohneinheit für pro Person etwa 30.000 Mark herzustellen. Ostmark, doch selbst wenn man Unvergleichlichkeiten hinzu addiert, ein Bruchteil heutiger Preise. Beim Sparen geholfen hat der DDR, dass sie industriell baute, während heute wie damals im Westen handwerklich vorgegangen wird. Man sollte meinen, dass sich ihre Ergebnisse übertreffen lassen, wenn ihre Leistungen erst einmal als solche akzeptiert sind. Teil IV erscheint am 4. Dezember: Gemeinschaft bauen. Architekturprozesse in Ost und West
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