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Dieses gewisse Plattenregal mit Ruf

Einfluss & Remix: Das legendäre Warp-Label rekapituliert seine Geschichte. Sie handelt von zwei Typen namens Steve und Rob und dem Auftrag: Erreiche die Nervenenden ohne den Umweg übers Gehirn!    ■ Von Martin Pesch

Ich glaube, mir geht irgendwas im Kopf herum, und wenn ich mich nicht täusche, ist es unwirklich. So ungefähr wären die inzwischen kanonischen Verse zu übersetzen, mit denen das Stück „Aftermath“ von Nightmares On Wax beginnt. Das letzte Wort, „unreal“, wird in die Echokammer geschickt und begleitet als Loop den dann einsetzenden Beat. Das Vokalfragment verschwindet und taucht in der einen oder anderen Modulation immer wieder auf. Es wandelt aber nicht nur durch diesen Track, sondern hallt durch das vergangene Jahrzehnt. Es ist Agens und Zeuge einer Musik, die ein bis dahin ungeahntes Ausmaß an Entgrenzung von Körpern, Zeit und Raum ermöglichte. Als das Stück Ende der Achtzigerjahre zum ersten Mal in britischen Clubs gespielt wurde, drang dieser Vocal-Loop in die Ecstasy-beschleunigten Synapsen junger Menschen ein und weckte die Illusion, es könne immer so weiter gehen. Aus „unreal“ wurde „real“. Entsprechend der damaligen Zeit, der drogengestützten Openess, wird die Negation ins Positive gesetzt: Wir sind Helden – für mehr als eine Nacht.

Diese Platte war die sechste Veröffentlichung der Plattenfirma Warp; die Maxi stand in der für das Label charakteristischen violetten Papphülle in den Läden. Sie war ein Hit in der Hochphase der britischen Rave- und Acid-House-Welle und ist heute ein Klassiker des Genres. George Evelyn, eine Hälfte der Nightmares On Wax, kam eines Tages in den Plattenladen, den Steve Beckett und Rob Mitchell in Sheffield unter dem Namen Warp betrieben, um zu fragen, ob er einige selbstgepresste Vinylplatten in ihrem Dance-Fach anbieten dürfte. Dieses gewisse Plattenregal genoss zu jenem Zeitpunkt schon einen Ruf, weil es so ziemlich das Einzige weit und breit war, dem man jene seltsamen und seltenen Maxis aus Chicago und Detroit entnehmen und an der Kasse gegen einen Importaufschlag erwerben konnte.

Als Beckett und Mitchell ihren Laden 1987 eröffneten, waren sie, wie sie selbst sagen, „typische Indie-Kids“. Dem entsprechend waren ihre Auslagen gut gefüllt mit den Spätausläufern dessen, was man Class-Of-86 nannte, also mit Platten von englischen Gitarrenpopbands wie Shop Assistants und Biff Bang Pow. Dass sie aber auch ein Ohr für diese ganz andere Musik vornehmlich schwarzer Produzenten aus dem mittleren Westen der USA hatten, erklären sie ökonomisch: „Wir interessierten uns für alles, was ,independent‘ war. Und diese Platten kamen teilweise in Einzelstücken zu uns. Es war auch nicht so leicht, die Betreiber der Labels überhaupt zu überzeugen, dass ihre Platten hier von Interesse sind.“ Die zwei Plattenhändler waren nicht die einzigen auf der britischen Insel, die die Tracks von Leuten wie Phuture, Derrick May und Mr. Fingers lieben gelernt hatten. Der einfache, rohe Sound, die simpel marschierenden 303-Rhythmen, die quirky Bässe aus den 808-Geräten – das hatte schon andernorts Begeisterung auf den Tanzflächen geerntet. Endlich war sie da, die Musik für DJs, Musik für den unendlichen Tanz, Musik, die, wie es der Musikjournalist Simon Reynolds beschrieben hat, die Nervenenden ohne den Umweg über das Gehirn erreicht.

In Sheffield wurde der Warp-Laden nach und nach Treffpunkt für alle von diesem neuen Sound angefixten Leute, von denen die meisten wiederum, falls sie Musiker waren, ihre Gitarren eingemottet und sich die Roland-Maschinen gekauft hatten. So wurde Warp ein Label, weil plötzlich lokale Projekte wie LFO, Sweet Exorcist, die im Keller unter dem Laden ihr Studio hatten, und eben Nightmares On Wax ihre Produkte an den Mann bringen wollten. Diese Gruppen gehörten neben den aus Manchester kommenden 808 State und A Guy Called Gerald schnell zu den wichtigsten Namen des gerade aufblühenden Rave-Geschehens. Beckett und Mitchell erinnern sich, dass ihr damaliges Selbstbewusstsein nicht im geringen Maße davon gestützt wurde, dass sie eine nordenglische Bastion gegen die auf diesem musikalischen Gebiet noch schlafende Metropole London hielten. Mit den Beats, Bleeps und Clonks aus ihrem Hause konnten insbesondere die Wochenzeitungen New Musical Express und Melody Maker wenig anfangen. Dort berichtete man zwar geifernd über die Acid-House-Welle, ignorierte aber, dass vor der Haustür eine vollkommen neue Szene von Musikern und Labels entstanden war. Das lag einerseits an der rockistischen Ausrichtung der Redaktionen, aber auch daran, dass die jeweiligen Anzeigenabteilungen so gut wie keinen Auftrag aus diesem neuen Bereich bekamen. Beckett und Mitchell waren Indie-Kids geblieben.

Als die dann aus aller Herren Länder einbrechende Flut von Techno-Platten die DJ-Cases füllte und sich mit dem Siegeszug in Europa ein Markt ganz anderer Größenordnung auftat, konnten und wollten die beiden nicht mehr mithalten. Der Dancefloor war für sie vorerst abgehakt. Man kann zwar behaupten, dass es Acid House ohne Warp auch gegeben hätte. Das, was man heute Electronic Listening nennt, die elektronische Mixtur aus Techno, Post Rock und Avantgarde, ist ohne einen bestimmten Winkelzug von Beckett/Mitchell aber nicht denkbar. Als sie 1993/94 die beiden Compilations „Artificial Intelligence“ herausbrachten, öffneten sie die Ohren vieler für das, was jenseits der Tanzfläche mit den dort herrschenden Sounds noch möglich ist. Teilweise heute noch maßgebliche Projekte wie Aphex Twin und Autechre, andere heute in anderen Formationen noch aktive Produzenten wie Black Dog und Seefeel wurden einem erstaunten Publikum bekannt, das bislang die Nase rümpfte, wenn Musik aus Strom erklang. Plötzlich wurden in einem entindividualisiert empfundenen musikalischen Bereich Subjekte sichtbar, Musiker mit ästhetischen Entwürfen, die man jenseits von ihrer Funktionalität beurteilen und goutieren konnte.

Auf diesem Feld bewegt sich Warp noch heute. Kurzzeitig schien es, als hätten Beckett und Mitchell resigniert, weil auch hier durch die Flut neuer Projekte und Labels die Qualitätsstandards zu verschwinden drohten. Daher setzten sie auf spektakuläre Acts wie Red Snapper und Jimi Tenor – beide noch heute im Programm. Dann warben sie einige viel versprechende Produzenten von kleinen Labels ab und sind heute mit Squarepusher, Plone und Boards Of Canada wieder so etwas wie die Speerspitze avancierter Elektronik. Die wiedergewonnene Selbstsicherheit drückt sich in einer beeindruckenden Edition zum zehnjährigen Bestehen des Labels aus. Die erste von drei Doppel-CDs präsentiert die „Influences“, also kanonische Tracks von Modell 500 und anderer meist US-amerikanischer Techno/House-Produzenten. „Classics“ dokumentiert die Warp-Jahre 1989 bis 1992. Und damit das Ganze nicht gar zu museal gerät, wird zu guter Letzt der Warp-Katalog einem General-Remix unterzogen, für den sich die derzeitige Produzentencrème zwischen Oval, Jim O'Rourke und Stereolab die Ehre gibt.

Diverse: „Influences“, „Classics 89 – 92“, „Remixes“ (Warp/Zomba)

Warp-Livetermine mit Mira Calix (DJ), Plone (Live), Plaid (Live), Broadcast (Live). Am 9. 11. Stadtgarten/Köln, 10. 11. Columbia-Fritz/Berlin, 11. 11. Grünspan/Hamburg

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