piwik no script img

Von Mond- und Sonnenkindern

An der Rudolf-Wissell-Grundschule werden Erst- und Zweitklässler als „Sonnen- und Mondkinder“ gemeinsam unterrichtet, um ihre sozialen Kompetenzen zu stärken    ■ Von Julia Naumann

Die Wandtafel ist voll geschrieben: Blätter mit Zahlenreihen sollen ausgefüllt, Bildchen ausgemalt, der Buchstabe „M“ soll aus Knete geformt werden. Die Lehrerin hat alle Aufgaben sorgfältig in Schreibschrift an die Tafel geschrieben. Über einem Teil der Pflichten prangt eine dicke gelbe Sonne, über dem anderen ein fetter silbriger Mond.

Doch nicht alle 16 Kinder der Schulklasse machen in dieser Stunde das Gleiche. Die Kleineren formen aus blauer und gelber Knete ein „M“ nach dem anderen. Die Größeren schreiben Zahlen bis 100 auf ein Blatt Papier. Am Ende der Stunde lobt Lehrerin Eva Loeffel alle Schüler: „Die Mondkinder haben heute gut gearbeitet und die Sonnenkinder auch.“

Mond und Sonne – das sind die Koordinaten, in denen die 1/2 c der Rudolf-Wissell-Grundschule in Wedding funktioniert. Die Klasse gehört zu einem Modellprojekt, wonach Erst-und ZweitklässlerInnen seit diesem Schuljahr „jahrgangsübergreifend“ unterrichtet werden. An acht Grundschulen werden derzeit zwei Jahrgänge gemischt unterrichtet, ab dem nächsten Schuljahr sollen es drei sein. Die Schulverwaltung hat dafür pro Schule 15 Lehrerstunden extra genehmigt.

Nach Angaben von Rosemarie Stetten von der Schulverwaltung, die das Projekt koordiniert, soll so die wachsende Heterogenität von Kindern aufgefangen werden. Die Schulanfänger kämen heute mit völlig unterschiedlichen Voraussetzungen, was Sprachniveau und soziale Kompetenzen angeht, in die Grundschule.

Eva Loeffel ist von dem Konzept, das sich eng an den Reformvorstellungen der Pädagogin Maria Montessori orientiert und das von der GEW initiiert wurde, begeistert: „Die Altersmischung wirkt sich besonders im sozialen Bereich sehr positiv aus.“ Die „Mondkinder“ würden den „Sonnenkindern“ im Unterricht und auch in den Pausen helfen.

Auch Rosemarie Stetten bestätigt, dass das soziale Lernen wesentlich gefördert wird. Sich für Schwächere einsetzen und von Älteren lernen ist gerade an der Rudolf-Wissell-Schule mit ihren 800 Schülern besonders wichtig – sie liegt in einem sozial schwachen Viertel mit einer hohen Quote von Kindern nichtdeutscher Herkunft. „Diese Fähigkeiten lernen viele Kinder sonst nur selten“, hat Lehrerin Loeffel beobachtet.

Der Unterricht in der 1/2 c erfolgt mit einigen Ausnahmen grundsätzlich gemeinsam. Die Schüler erledigen zwar verschiedene Aufgaben, arbeiten aber auch zusammen. So haben die „Mondkinder“ den „Sonnenkindern“ in der letzten Woche ein Gedicht vorgelesen, die Jüngeren haben die Buchstaben des Textes ausgemalt.

Aber auch die Großen werden durch die Durchmischung gefördert: „Für die Älteren sind die Jüngeren ein ständiger Anreiz“, hat Loeffel beobachtet. „Denn die können plötzlich genauso gut wie die Großen sein.“ Ein Beispiel ist Emilio (Name von der Red. geändert): Der 7-Jährige, der in diesem Sommer eingeschult wurde, kann bereits relativ gut schreiben und weiß sich auch gut auszudrücken. In Mathematik ist er aber eher durchschnittlich. Deswegen bekommt er in Deutsch Aufgaben für Zweitklässler, und in Mathematik lernt er dasselbe wie die anderen „Sonnenkinder“ auch. Oder Ismail: Der 9-Jährige hätte eigentlich nach der ersten Klasse zurückgestellt werden müssen. Durch die Altersmischung bleibt er aber im Klassenverband und wird nochmals zum „Sonnenkind“. Durch diese flexible Unterrichtseinteilung können Lernschwache und Lernstarke gleichermaßen gefördert und sogar Klassen übersprungen werden.

Natürlich gab es anfänglich auch eine gehörige Portion Skepsis. „Es war nicht einfach, die Eltern nach Ende des ersten Schuljahrs von der Idee zu überzeugen, die Klasse zu teilen und sie mit Erstklässlern zu mischen“, sagt Eva Loeffel. Einige hätten Angst gehabt, dass es wie in einer Dorfschule am Anfang des Jahrhunderts zugehen würde, wo die Kinder aller Altersstufen traditionell in einem Klassenraum unterrichtet wurden. Die zukünftigen Zweitklässler fanden es zwar erst „süß“, mit Anfängern die Schulbank zu drücken. Doch jetzt gibt es ab und zu auch Reibereien. Aber nicht wirklich schlimme, wie die Lehrerin betont.

Nach wie vor erfordert das Modellprojekt eine Menge Organisationstalent von den LehrerInnen. Erst recht, wenn es im nächsten Schuljahr neben „Mond- und Sonnenkindern“ noch „Sternkinder“ geben wird.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen