: Egon Krenz' letzte Hoffnung heißt Adenauer
■ Nach dem BGH-Urteil will Egon Krenz sein Recht beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte suchen. Erfolg könnte ihm der so genannte Adenauer-Vorbehalt bescheren
Freiburg (taz) – „Ich wehre mich, so lange ich kann“, beschrieb Egon Krenz vor dem Bundesgerichtshof in Leipzig seine aktuelle Lebenseinstellung. Deshalb will er sich mit dem gestrigen Urteil des BGH, mit dem die sechseinhalbjährige Haftstrafe für Krenz bestätigt wurde, auch nicht zufriedengeben und sein Recht auf der europäischen Ebene suchen: beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg.
Der EGMR ist das Gericht des Europarates, dem mittlerweile 41 Staaten angehören. Er wacht über die Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention und kann bei konkreten Beschwerden auch Staaten verurteilen. Zuletzt wurde etwa Großbritannien verpflichtet, seine Streitkräfte für Homosexuelle zu öffnen.
In Straßburg ist bereits eine Klage von Heinz Keßler anhängig, dem ehemaligen DDR-Verteidigungsminister, und seinem damaligen Vize Fritz Streletz. Beide waren in Deutschland als Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrats wegen der Mauertoten zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt worden. Die rechtlichen Probleme sind identisch mit denen im Fall Krenz. So berufen sich auch Keßler und Streletz auf das Verbot rückwirkender Strafgesetze. Danach ist eine strafrechtliche Verurteilung nur möglich, wenn die Tat schon bei ihrer Ausführung mit Strafe bedroht war. Sie argumentieren, dass Mord und Totschlag zwar auch in der DDR strafbar waren, das Recht der DDR jedoch den Schusswaffeneinsatz bei Fällen der „Republikflucht“ erlaubte. Da diese Rechtfertigung nach der Wende jedoch nicht anerkannt wurde, wehrten sich Keßler und Streletz zuerst mit einer Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe. Allerdings ohne Erfolg.
Die Verurteilung wegen der Mauertoten verstoße nicht gegen das Rückwirkungsverbot, so das Bundesverfassungsgericht im Jahr 1996. Denn das DDR-Grenzgesetz sei in seiner praktischen Anwendung „schwerstes materielles Unrecht“ gewesen und habe „die in der Völkerrechtsgemeinschaft allgemein anerkannten Menschenrechte in schwerwiegender Weise missachtet“. De facto hat Karlsruhe damit das grundgesetzliche Rückwirkungsverbot in diesem Fall einfach außer Kraft gesetzt.
Doch auch die Europäische Menschenrechtskonvention sieht ein derartiges Rückwirkungsverbot vor. Keßler, Streletz und Krenz hoffen deshalb, dass sie in Straßburg mehr Erfolg haben werden.
Auf den ersten Blick ist die europäische Rechtslage allerdings eher ungünstiger für die einstigen DDR-Größen. Anders als das Grundgesetz sieht die Konvention nämlich eine ausdrückliche Ausnahme vom Rückwirkungsverbot vor. Unter dem Eindruck des Nürnberger Tribunals gegen NS-Verbrecher wurde die Rückwirkung von Strafgesetzen ausdrücklich zugelassen, wenn die Tat bei anderen „zivilisierten Völkern“ allgemein strafbar ist.
Krenz und Co. rechnen sich in Straßburg aber dennoch Chancen aus, weil ausgerechnet die Bundesrepublik einen völkerrechtlichen Vorbehalt gegen diese Ausnahme vom Rückwirkungsverbot eingelegt hat. Unter Berufung auf die striktere Garantie des Grundgesetzes hat die Adenauer-Regierung darauf bestanden, dass NS-Täter nicht aufgrund rückwirkender Strafgesetze bestraft werden können. Auf diesen Adenauer-Vorbehalt wollen sich nun auch die ehemaligen DDR-Funktionäre berufen. Angesichts dieses Geflechts von Ausnahmen und Gegenausnahmen ist schwer abzuschätzen, welche Entscheidung der Straßburger Gerichtshof treffen wird.
Vermutlich wird der Menschenrechtsgerichtshof im nächsten Jahr über die Klagen von Keßler und Streletz entscheiden. Krenz-Anwalt Robert Unger hofft, dass die Klage seines Mandanten dann gleich mitberücksichtigt wird. Eigentlich muss Krenz sich erst noch eine Abfuhr beim Bundesverfassungsgericht holen, bevor er nach Straßburg gehen kann. Tatsächlich hat der ehemalige DDR-Staatschef aber bereits vor zwei Jahren, nach seiner Verurteilung durch das Berliner Landgericht, Klage in Straßburg erhoben. Seine Begründung für diesen Schritt: Die Haltung der deutschen Gerichte stehe in der Rückwirkungsfrage unverrückbar fest.
Die Anwälte von Schabowski und Kleiber, deren jeweils dreijährige Haftstrafen ebenfalls vom BGH bestätigt wurden, haben aus taktischen Gründen zwar gar nicht mehr mit dem Rückwirkungsverbot argumentiert. Es ist aber gut möglich, dass auch Krenz' Kollegen aus dem Politbüro am Ende noch einen Versuch in Straßburg unternehmen. Christian Rath
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