Das Gespenst

Die Waffe Mensch“: In der Volksbühne erinnerte man sich an den Terroristen und Filmemacher Holger Meins  ■   Von Kolja Mensing

Berlin, im Sommer 1967. Studenten sitzen um einen Tisch herum: „Da ist die Kasse, ihr zwei kommt von da hinten“, erklärt einer von ihnen den Plan. Der Überfall auf die Universitätskasse scheitert dann allerdings. Es kommt zu einer Schießerei, zu einem Räuber-und-Gendarm-Spiel: Hartmut Bitomkys Film „3000 Häuser“ entstand in dem Sommer, in dem der Student Benno Ohnesorg während einer Demonstration erschossen wurde.

Bald wird die RAF der Bundesrepublik den Krieg erklären, Banken überfallen und Menschen entführen, es wird Schießereien geben. Ein grausames Räuber-und-Gendarm-Spiel. Mit vielen Toten. „3000 Häuser“ nimmt einiges davon vorweg, mit einer Ironie, die heute bitter schmeckt. Im Nachspann wird Holger Meins als Kameramann genannt. Auch das ist Teil dieses ironischen Zusammenhangs, den man Geschichte nennt.

Berlin, im Herbst 1999. Am Brandenburger Tor erinnert ein Rockkonzert an den Mauerfall, an anderen Orten denkt man an die Reichspogromnacht. Es ist der 9. November, und genau vor 25 Jahren starb Holger Meins an den Folgen eines Hungerstreiks. Der Regisseur Hans-Werner Kroesinger hat darum an der Volksbühne einen „Abend zu einem deutschen Leben“ ausgerichtet: „Die Waffe Mensch“. Kroesinger hatte bereits im Podewil mit seiner Inszenierung „Don't look now II“ RAF-Geschichte dokumentiert. „Die Waffe Mensch“ ist jetzt erst einmal weniger Inszenierung als Spektakel. Im ganzen Haus gibt es Ausstellungen, Diskussionsveranstaltungen, Konzerte, Lesungen und Filmvorführungen, alle beschäftigen sich mit Holger Meins: Terrorist, Maler, Filmemacher, Waffe.

Die Geschichte der RAF ist eine Geschichte von Ikonen. Für lebende Menschen ist da wenig Platz, nur für Tote. Eine traurige Fotoausstellung im Foyer der Volksbühne zeigt sie: die Opfer des Bürgerkriegs zwischen 1967 und 1993, Berlin und Bad Kleinen, vom Studenten Benno Ohnesorg bis zum Grenzschutzbeamten Michael Newrzella. Doch der Abend in der Volksbühne, und das ist gut so, ist nicht den Opferreihen gewidmet. Er setzt nicht bei der Waffe, sondern beim Menschen Holger Meins an. Auf der Bühne wurden Kurzfilme gezeigt, an denen Holger Meins mitgearbeitet hatte, kommentiert vom Filmemacher Haroun Farocki, der mit Meins zusammen 1966 zum ersten Jahrgang der Berliner Filmakademie gehört hat. Darunter auch „3000 Häuser“. Meins' Film über die Herstellung eines „Molotow-Cocktails“, der 1968 auf einer Veranstaltung der „kritischen Universität“ gezeigt wurde, war allerdings nicht mehr aufzutreiben.

Der einzige Film, den Holger Meins ganz allein gedreht hat, ist „Oskar Langenfeld“ aus dem Jahr 1966, eine kurze und intime Dokumentation über einen alten Lumpensammler und Obdachlosen: „Das ist eine sehr runde Arbeit“, so Farocki, „die einzige, die Holger Meins wirklich abgeschlossen hat.“ Farocki beschreibt den 2. Juni 1967 als Bruch in Holger Meins' Biographie, nicht nur als extreme Politisierung, sondern auch als Wendung ins Fragmentarische. Hans-Werner Kroesinger zeigt in der Volksbühne, wie Holger Meins verschwunden ist.

In den Skizzen und Gemälden, die er zwischen 1964 und 1966 an der Staatlichen Hochschule für Bildende Künste in Hamburg-Lerchenfeld angefertigt hat, gibt es Holger Meins noch: als Zeichenschüler, als wilden jungen Menschen, der sich in den bösen Blicken der gemalten Gesichter selbst gesehen haben mag. In dem „Oskar Langenfeld“-Film hört man dann seine Stimme, er spricht mit dem alten Mann („Fluch doch mal!“). Danach ist es seine Hand, die Kamera führt oder den Regler am Bandgerät bedient, und dann ist Holger Meins plötzlich nur noch ein Name, der in den Akten auftaucht: 1970 wird der erste Haftbefehl gegen ihn erlassen.

Zwei Jahre später taucht er kurz wieder auf, als grob gerastertes Foto: Holger Meins wird festgenommen. Nur mit einer Unterhose bekleidet, wird er schreiend abgeführt, schon jetzt sieht er abgemagert aus. In der Volksbühne las der junge Schauspieler Milan Peschel mit ruhiger Stimme Texte von Meins aus der Haftzeit. Es geht um „Pigs“, „Probleme“ und „Lösungen“, man kennt den Sound, und dann: „46,8 Kilogramm, ich wiege mich selbst, muss niemand wissen“, notierte der Gefangene kurz vor seinem Hungertod. Zuletzt wog er 39 Kilo, auf dem letzten Foto sieht er aus wie ein Gespenst: Holger Meins hat sich aufgelöst.

Die Aufnahme wurde am 9. November gemacht. Als man am späten Abend die Volksbühne verlässt, 25 Jahre später, wird Deutschland am Brandenburger Tor gerade gefeiert, von den Scorpions, Udo Lindenberg und City. Auch das ist Theater, Geschichte, Ironie. Einen Moment lang kann man es nicht aushalten.