: Im Lager
Eine Erzählung Von Carsten Rohde
Es ist immer kalt im Lager. Die Dinge im Lager wollen das so. Die Dinge heißen SM LL H/Pf Jogh 500 G oder Rei Bumi 1 L, und sie haben Kennzahlen wie 24.497 oder 00.013. Die Arbeit derer, die im Lager sind, besteht darin, diese Dinge nach einer Liste einzusammeln. Dafür gibt es Rollwagen, mit denen fährt man durchs Lager, den Zettel in der einen Hand, während man mit der anderen Hand die Milch- und Joghurtkisten auflädt. Sind die Dinge alle eingesammelt, fährt ein Gabelstapler den Rollwagen zur Rampe. Dort steht ein Lastwagen, der lädt die Dinge ein und fährt sie weiter zum Supermarkt. Am nächsten Morgen stehen die Dinge dann im Kühlregal.
Lager liegen im Industriegebiet. Das Industriegebiet ist in gewisser Weise ein Ort wie jeder andere auf dieser Welt. Es gibt, wie anderswo auch, die Dinge und die Menschen. Und es gibt den Raum zwischen ihnen. Und doch ist das Industriegebiet ein besonderer Ort: Die Menschen, die Dinge und auch der Raum sind anders als anderswo. Manche Dinge tut man einfach nicht im Industriegebiet. Rumstehen zum Beispiel gilt nicht. Überhaupt sind die Dinge und die Menschen sehr viel mehr in Bewegung im Industriegebiet als anderswo. Genauer: Die Menschen sind mit den Dingen zusammen ständig und meistens rasend schnell in Bewegung. Denn einzelne Menschen in Bewegung sind kaum zu sehen, immer ist ein Fahrzeug oder ein Ding dabei.
Diese Geschwindigkeit der Dinge und der Menschen ist das eigentliche Kennzeichen des Industriegebiets. In ihr liegt gewissermaßen die ganze Brutalität des Lebens im Industriegebiet und also im Lager. Wenn man nicht aufpasst, etwa einen Moment sich und den Ort, an dem man sich befindet, vergisst, kann es passieren, dass man von dieser Geschwindigkeit tatsächlich überrollt wird. Ein Lastwagen – die sind am gefährlichsten – überrollt einen und man ist weg. Deshalb muss man stets wachsam sein. Wie wenn man zu Fuß eine Autobahn überqueren wollte.
Das Industriegebiet liegt denn auch meist an einer Autobahn. Es ist sozusagen eine Autobahn ohne Autos, aber mit Menschen und Maschinen, die sich wie Autos hin- und herbewegen. Um so unheimlicher ist der Sonntag, an dem selbst im Industriegebiet, wie gesagt wird, alle Räder stillstehen. Dann sieht man keine Dinge noch Menschen in Bewegung, dann ist alles wie tot im Industriegebiet. Und weil es auch keine Natur gibt im Industriegebiet, nur hier und da ein paar frisch gesäte, klinisch grüne Rasenflächen und das Ödland ringsherum – weil also an Sonntagen die Menschen aus dem Industriegebiet verschwinden, die Dinge stillstehen und Natur hier praktisch nicht existiert, deshalb ist alles nicht nur wie tot an diesen Sonntagen im Industriegebiet, es ist tatsächlich alles tot.
Mit einer Ausnahme. Denn im Lager wird selbstverständlich auch am Sonntag gearbeitet. Im Lager gibt es keinen Stillstand, immer sind die Menschen und die Dinge in Bewegung, immer auch brummen und arbeiten die riesigen Kühlmaschinen an den Lagerwänden und Lagerdecken. Selbst die Dinge, die nicht in Bewegung sind, arbeiten. Die Tonnen von Stahl und Beton nämlich, die im Lager ihren festen Platz haben und die Menschen mit der Unbeweglichkeit eines Gebirges umgeben, sie machen mit ihrer eisernen Gleichgültigkeit die beweglichen Dinge und Menschen erst möglich. Sonst würde alles in einem Chaos versinken.
Alex ist der jüngste von allen, die im Lager sind, und beinahe jedesmal vor Schichtbeginn erzählt er von Ollen, die ihn an der Bushaltestelle angelächelt haben wollen. Wenn die Olle morgen da wieder steht, dann quatsch ich sie an. Natürlich steht die Olle morgen nicht wieder da. Aber dafür hat Alex am nächsten Tag eine neue Geschichte, mit einer neuen Ollen. Und dass man ihn nicht falsch versteht: Alex ist keiner, der schmutzige Frauenwitze macht. Seine Geschichten erzählt er mit dem immer gleichen Strahlen im Gesicht. Sowieso hat er seine Kleine, also eine feste Freundin, und das mit den Ollen an Bushaltestellen ist mehr ein Staunen darüber, dass es so verdammt viele schöne Mädchen auf der Welt gibt. Alex weiß schon, warum er auf der Welt ist, das ist keine Frage, und selbst das Lager scheint ihm ein einziger großer Abenteuerspielplatz zu sein. Manchmal sieht man ihn in den Hallen Autoscooter fahren mit den Rollwagen: Er läuft mit Anlauf los und kurvt johlend durch die Gänge. Alex macht auch die schwere Arbeit nichts. Zwei Milchkisten, die zusammen an die vierzig Kilo wiegen, greift er mit einer Hand und wuchtet sie auf seinen Rollwagen: Ist wie im Kraftstudio! Alex war es, der auch mal ausgerechnet hat, was man im Lager so täglich wuchtet. Zwanzig Tonnen, sagt Alex, und findet wohl, das klingt beeindruckend, selbst wenn man die zwanzig Tonnen durch jene acht teilt, die im Lager arbeiten und gemeinsam diese Gewichte bewegen. Aber Zahlen sind abstrakt. Wer immerzu schwere Kisten und Kästen herumwuchtet wie die, die im Lager arbeiten, hat andere Arme und Hände. Kräftigere, natürlich zunächst einmal, und insgeheim ist jeder, der im Lager arbeitet, stolz auf seine kräftigen, muskulösen Oberarme.
Aber diese Arme und Hände sind auch müde nach der Arbeit, und nur der im Lager arbeitet, weiß, was es heißt, Muskelkater in den Fingern zu haben. Man nimmt die Dinge anders in die Hand. Man greift, stößt, tastet anders, oft unverhältnismäßig, so dass beispielsweise beim Aufknöpfen des Hemdes ein Knopf abreißt, weil man zu heftig war. Die Welt, mit den Händen begriffen, ist eine andere, und auch Menschen fühlen sich anders an, wenn die Hände acht Stunden lang mit den schweren und gleichgültigen Dingen aus dem Lager zu tun haben. Die, die im Lager arbeiten, schenken den Dingen außerhalb des Lagers möglicherweise weniger Aufmerksamkeit, weil nicht nur ihre Hände, sondern ihre Sinne überhaupt einfach zu müde sind.
Die im Lager arbeiten, arbeiten auf Zeit. Niemand bleibt sein Leben lang im Lager. Manche gehen nach zwei Wochen, manche machen's ein halbes Jahr, und einer ist neulich sogar abgeholt worden, weil er nicht mehr konnte. Zwei Krankenwagen waren hier, konnte sich nicht mehr bewegen, sagt Henryk, der polnische Gabelstaplerfahrer, über Dieter, den es wohl an der Bandscheibe erwischt hat. Dabei gibt es kaum einen, der klagt über die Arbeit im Lager. Man geht nicht gerade gern dorthin, man verdient unverschämt wenig für eine anstrengende Arbeit, man redet bereits am Dienstag vom Freitag und also von nichts anderem als vom Wochenende – und doch klagt keiner.
Vielleicht weil die im Lager nichts anderes kennen. Und das, was sie aus den Zeitungen kennen – reiche Popstars und Filmschauspieler –, das spielt in einer anderen Welt. Trotzdem ist diese andere Welt immer gegenwärtig, ja man kann geradezu sagen, jeder im Lager hat diese andere Welt, wo es das Wort Lager nicht gibt und wo die Menschen reich und glücklich sind, jeder im Lager hat diese andere Welt immer vor Augen und im Kopf. Jeder will dorthin. Weil aber in der Wirklichkeit kein Weg dorthin führt, sind die aus dem Lager unzufrieden. Die Lage derer, die im Lager sind, ist also tatsächlich aussichtslos, und wahrscheinlich ist es diese Aussichtslosigkeit, die aus manchen im Lager ganz und gar unverträgliche Menschen macht. Menschen, denen die Unfreundlichkeit und Gewaltbereitschaft bereits ins Gesicht geschrieben steht. Ja, es gibt richtige Arschlöcher im Lager, denen man besser aus dem Weg geht.
Aber niemand wird doch als Arschloch geboren, und schließlich ist es so: Die im Lager arbeiten, arbeiten dort, weil sie nirgends sonst eine Arbeit gefunden haben. Das Lager ist für die meisten die letzte Station vor dem Sozialamt, das ihnen noch weniger Geld gibt. Das Lager befindet sich also irgendwo zwischen unten und ganz unten. Unten aber ist man viel zu unzufrieden mit seinem Leben, als dass man freundlich und kollegial wäre, oder gar höflich, wie das oben und in der breiten Mitte der Fall ist. Unten herrscht eine latente Aggressivität. Man fragt sich oft, wieso die Menschen unten immer so unfreundlich zueinander sein müssen, und doch ist alles natürlich sehr klar: Wie jeder Mensch, träumt auch der, der im Lager arbeitet und unten ist, von einem angenehmen Leben mit viel Geld. Weil aber die, die im Lager arbeiten und unten sind, sozusagen von allen am weitesten entfernt sind von viel Geld und einem angenehmen Leben, weil sie alles in allem höchstens 1.600 Mark netto im Monat verdienen – weil sie nur zu genau wissen, dass ein angenehmes Leben mit viel Geld für sie unmöglich ist und bleiben wird, sind sie permanent unzufrieden. Empfindsame und nachdenkliche Menschen würde diese Aussicht vermutlich in den Selbstmord treiben. Die, die im Lager arbeiten und unten sind, denken nicht darüber nach, sondern geben ihre Unzufriedenheit einfach an den Nächstbesten weiter. Ziemlich egal, ob das der Kollege, ein Ausländer, der Chef oder ein Politiker aus der Zeitung ist. Man kann nicht ewig nur einstecken.
Im Lager gibt es ausschließlich Männer. Die Dinge sind zu schwer, als dass man Frauen zutraut, sie zu tragen. Gerade weil es im Lager keine oder doch kaum einmal Frauen gibt (allenfalls in der Verwaltung des Lagers), gerade deshalb geistern Frauen durch die Köpfe derer, die im Lager arbeiten. Pedros, der Grieche, erzählt immerzu von Frauen. Von Frauen aus dem Fernsehen, von Frauen mit riesigen Brüsten, von Frauen, die er gestern besucht hat gegen Geld. Auch in den Pausen wird immerzu von Frauen geredet. Da wäre Alex mit seinen Ollen. Da sind die Mädchen von Seite eins. Da war einmal die Jeansverkäuferin aus der Stadt, die es zur Miss Germany brachte und sich in der Zeitung oben ohne ablichten ließ. Mensch, die Olle kenn ich doch, sagt Alex. Die arbeitet im Ringcenter. Aber die hat ja garantiert schon 'nen Typen, so wie die aussieht. Trotzdem macht Alex ein zufriedenes Gesicht – wieder eine, die beweist, dass die Welt schön ist und dass es sich lohnt hinzusehen. Solche Sachen also gehen den Menschen durch den Kopf, während sie im Lager arbeiten.
Kaffee trinken, Zigaretten rauchen, Zeitung lesen – das tut man in den Pausen. Dazu erzählt Henryk von Polen: Kennst du Slubice, mein Sohn. Kannst du billig Zigaretten einkaufen und Haare frisieren lassen. Kalle liest die Sensationen aus der Zeitung vor. Alex wieder mit seiner Ollen von der Bushaltestelle. Marc löst Kreuzworträtsel. In die Pausen geht jeder gern, nicht nur, weil er dann nicht arbeiten muss. Es ist wie Freizeit, jeder tut, was er gerne tut: von der Heimat reden, von schönen Mädchen erzählen, Kreuzworträtsel lösen oder sich die Sensationen ausmalen, die so in der Welt passieren.
Kaum einer heißt im Lager so, wie er wirklich heißt. Stattdessen gibt es Lagernamen, Spitznamen, manchmal auch Kosenamen. Zu Pedros, dem Griechen, beispielsweise sagen viele Meistersänger, denn Pedros singt oft und dann sehr laut Lieder aus seiner griechischen Heimat. Kalle, füllig um die Hüften, wird von manchen nur der Dicke gerufen. Hey, Dicker! Auch deswegen wohl hat Kalle hier vor kurzem aufgehört. Vorher sagte er einmal über einen, der ihn immerzu mit Hey, Dicker! angesprochen hat: Dem müsste man mal eine verpassen. Aber auf der Arbeit sich schlagen – das geht ja auch nicht. Erst recht nicht die Ausländer werden bei ihrem richtigen Namen gerufen. Weil der eine, der eigentlich Aron heißt, ein wenig orientalisch aussieht, heißt er nach Karl May Hadschi. Schwarze sind sowieso erstmal Neger, ein Schwarzer heißt also erstmal der Neger oder auch Bimbo oder Mosawimbi, selbst wenn er aus Kuba kommt und Javier mit Vornamen heißt.
Die einzigen, die im Lager bei ihrem richtigen Namen, und das heißt bei ihrem Nachnamen, genannt werden, sind die Schichtleiter und Vorarbeiter, die aber bereits in einer anderen Welt leben, nicht in der Welt des Lagers. Zu oft sitzen sie in ihren Büros am Computer, und wenn sie dort sitzen, dann hat das nichts mehr mit dem Lager zu tun, denn das Lager besteht aus der Kälte und den Dingen, die schwer sind. Der Computer aber verwandelt das Gewicht des Lagers in Zahlenkolonnen, die nichts wiegen.
Geld gibt es jeden Monat zum Fünfzehnten. Aber niemand kann warten bis zum Fünfzehnten, jeder braucht das Geld jetzt, nicht erst am Fünfzehnten. Also kommen alle am Ende jeder Woche ins Büro des Lagers. Dort sitzt der Chef an einer Kasse und gibt jedem, der will, einen Abschlag. Auch der Chef hat einen Spitznamen im Lager, er lautet: Halsabschneider! Der Chef oder Halsabschneider!, der am Ende jeder Woche an der Kasse sitzt und Abschläge verteilt, sitzt unter der Woche am Schreibtisch und dirigiert das Lager und seine Leute. Während er das tut, schaut eine weiße Jesusbüste aus Gips von einem Schrank auf ihn herunter. Der Chef oder Halsabschneider! gefällt sich in der Rolle des Familienvaters und gibt sich gegenüber denen, die für ihn im Lager arbeiten, stets freundlich. Dennoch mag ihn hier keiner, er bleibt eben der Halsabschneider!, der dafür sorgt, dass das Leben aus einer endlosen Reihe von Abschlägen besteht.
Eigenartig ist es, trifft man außerhalb des Lagers auf das Lager. Man steht im Supermarkt, eine Tür öffnet sich, ein Angestellter kommt heraus und schiebt einen Rollwagen an einem vorbei zum Kühlregal. Diese plötzliche Begegnung mit Dingen aus dem Lager macht einen Moment lang orientierungslos – wie man ja immer ein wenig verunsichert ist, wenn die Dinge nicht an ihrem gewohnten Platz sind. Dann kehrt das Vertraute zurück. Ein konzentrierter, fachmännischer Blick richtet sich auf den Rollwagen. Denn so wie jeder, der arbeitet, zu den Dingen, mit denen er arbeitet, ein besonderes Verhältnis hat – so wie Schmiede zum Eisen, Informatiker zu ihrem Computer, Tennisspieler zu ihrem Tennisschläger –, so haben auch die, die im Lager arbeiten, ein besonderes Verhältnis zu ihrem Arbeitszeug. Nicht jeder Rollwagen ist wie der andre. Es gibt solche und solche, solche mit einem Boden aus Kunststoff, solche mit einem Boden aus Holz. Es gibt Rollwagen, die gut fahren, andere, deren Räder blockieren, was die Arbeit nicht gerade erleichtert, wenn der Rollwagen voller schwerer Dinge und zwei Meter hoch bepackt ist. Selbst ganz unten mag man auf eine Weise die Dinge, mit denen man zu tun hat. Niemand, auch wenn keiner klagt, arbeitet gerne im Lager. Alle freuen sich auf die Pausen und auf den Feierabend. Nur kurz vor Feierabend sieht man wirklich so etwas wie Leben in den Augen derer, die im Lager arbeiten. Wie ein Schritt in eine andere Welt ist noch jedesmal der Schritt nach draußen vor die Tür des Lagers, wenn die Schicht vorbei ist. Man kommt aus dem Lager mit seiner Kälte und dem künstlichen Licht, und beinahe immer ist die Luft draußen wärmer und angenehmer, und vielleicht nur für diesen kurzen Augenblick weiß man es wirklich zu schätzen, dass da oben eine Sonne scheint. Das Licht, wenn man heraustritt aus dem Lager, ist wirklich phantastisch.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen