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Die Zeit der Tränen ist vorbei

Sinaida Pfeffer und Belant Mousarova, zwei Mütter aus Tschetschenien, flüchteten mit ihren Familien vor dem Krieg nach Berlin. Hier wollen sich die anerkannten Spätaussiedler schnell anpassen und ein neues Leben aufbauen: Ihre Kinder sollen es einmal besser haben  ■   Von Julia Naumann

Sinaida Pfeffer und Belant Mousarova wollen nicht, dass ihre Heimat Tschetschenien ein eigenständiger Staat wird

Wenn Sinaida Pfeffer zu Bett geht, dann legt sie sich in ihrem großen Bett immer auf die Seite, die zum Fenster geht. Ihr 14-jähriger Sohn Timur schläft neben ihr, er wird geschützt durch den Körper der Mutter. „Das habe ich noch in mir“, sagt die 46-Jährige in flüssigem Deutsch und lacht verlegen.

„Eigentlich müsste ich keine Angst mehr haben und mein Sohn auch nicht“, murmelt sie. Keine Angst vor Heckenschützen, vor Hubschraubern, die nachts mit grellen Scheinwerfern die Stadt Grosny überflogen, oder vor den Bombardement der Russen.

Zu Beginn des ersten Tschetschenien-Kriegs 1994/1995 ist die Familie bei Angriffen in den Keller geflüchtet. „Irgendwann sind wir oben geblieben und haben nur noch die Fenster zugeklebt“, erinnert sich Sinaida. Ihr Haus ist mittlerweile zerstört. Die Familie war zwischenzeitlich aufs Land geflüchtet und später nach Russland in den Nord-Kaukasus.

Seit knapp einem Jahr lebt Sinaida mit ihrer Familie in Berlin. Sie sind keine Flüchtlinge, sondern Aussiedler. 1996 hat die Familie ganz regulär einen Antrag gestellt, nach Deutschland übersiedeln zu können. „Wir haben es in Tschetschenien nicht mehr ausgehalten“, sagt sie, die Deutsch-Tschetschenin ist. Ihre Mutter ist Deutsche. Ihr Ehemann Tschetschene, ein erfolgreicher Geschäftsmann für Export und Import. „Es gab in Grosny einfach keine Zukunft mehr für unsere Kinder“, sagt die energische Frau. Plötzlich werden ihre Augen müde. Ihr Blick schweift über ein großes Farbfoto, das an der Wand hängt: Ihr Sohn ist darauf und drei andere Kinder, die im Sonnenuntergang auf einem Platz in Grosny stehen. Der Platz ist leer, nur Schutt und Ruinen sind im Hintergrund. Das Foto sieht aus, als soll es Hoffnung signalisieren. Es wurde 1995 von einem französischen Fotografen gemacht. „Der Platz war einer der wichtigsten Orte der Stadt“, sagt Sinaida und zuckt resigniert mit den Schultern.

Den Kindern soll es in Deutschland besser gehen. Deshalb ist auch die Geschichtslehrerin Belant Mousarova mit Ruslan, Raset und Tamara nach Berlin gezogen. Die drei Kinder besitzen die deutsche Staatsangehörigkeit, der Vater war Tschetschene deutscher Herkunft. Der Ingenieur wurde in Grosny 1996 von Heckenschützen vor der eigenen Haustür erschossen. Er arbeitete auf einer Hühnerfarm und überprüfte dort die technischen Anlagen.

In der ersten Zeit nach der Ankunft in Berlin vor einem Jahr waren die beiden Familien nur mit sich beschäftigt. Sie richteten sich kleine Wohnungen ein, die vom Sozialamt bezahlt werden, bis sie auf eigenen Füßen stehen können. Beide Familien wohnen in einem Neubaugebiet in Berlin-Spandau. Ihre Kinder haben Plätze in Förderklassen bekommen, um die neue Sprache zu lernen.

Langeweile ist noch nicht aufgekommen. Belant Mousarova sagt: „Wir hatten so viel zu tun, dass wir manchmal unsere Heimat vergessen haben.“ Doch seit der neuen Offensive der Russen in Tschetschenien vor knapp zwei Monaten dreht sich plötzlich alles wieder um die Heimat. Der Fernseher im Wohnzimmer der Mousarovas läuft den ganzen Tag. Entweder ist der russische Kanal RTR oder ORT eingeschaltet, die beide über Satellit zu empfangen sind. Meistens ärgert sich die Mutter beim Zuschauen, denn die Sender verbreiten den ganzen Tag nur Propaganda, sagt sie. „Die Russen zeigen nur das, was sie zeigen wollen“, sagt auch Sinaida ärgerlich und ihre Stimme wird wieder energischer. Zum Beispiel Tschetschenen, die in die Kamera lachen und den Einmarsch der Russen begrüßen. Oder Flüchtlinge in Inguschetien, die in Lagern leben und vor laufenden Kameras die Verpflegung loben.

Sinaida hat ganz andere Informationen. Sie hat von Verwandten in den vergangenen Wochen immer wieder kurze Anrufe bekommen: Das Essen in den Lagern sei miserabel, die Schlafgelegenheiten schlecht.

In den beiden Familien wird ständig über den Krieg diskutiert, und die Meinungen gehen oft weit auseinander. Sinaida glaubt, dass die Islamisten, die „Terroristen“, wie die Russen sie nennen, ohne russische Hilfe nicht bekämpft werden könnten. „Aber die Russen sollen mit Polizeikräften und nicht mit Soldaten gegen die Rebellen vorgehen“, ist sie überzeugt. Das sieht Belant ganz anders: „Nur die Tschetschenen selbst können die Islamisten aus dem Land jagen.“ Beide wollen nicht, dass die abtrünnige Kaukasusrepublik ein eigenständiger Staat wird. Ohne Russland könne Tschetschenien nicht überleben, da sind sich beide sicher.

Die beiden Frauen, die sich oft zu einem Plausch oder zum wöchentlichen Gang ins Sozialamt treffen, sprechen einen Kauderwelsch aus Tschetschenisch und Russisch. Beide können Russisch besser, denn das ist die tschetschenische Amtsprache, die in Verwaltung und Schule gesprochen wird. Deshalb fallen sie auch nicht auf, wenn sie sich mit russischen Aussiedlern unterhalten, von denen einige in ihrem Neubaugebiet wohnen.

Probleme gebe es mit denen keine, sagen beide Frauen, auch wenn viele Russen das glaubten. Sie sind empört über solche Vermutungen. Es gebe keine Wut auf die Nachbarn, keine Ängste oder gegenseitigen Beschimpfungen. „Wir halten im Exil zusammen“, sagt Sinaida. Auch in Grosny sei das nicht anders gewesen. Russen und Tschtetschenen hätten sich immer schon gemischt. „Nicht alle, aber viele“, sagt Sinaida. Die russische Regierung sei an dem Krieg schuld, nicht die Bevölkerung.

Die beiden Frauen glauben nicht, dass sie bald nach Grosny fahren können, um ihre Verwandten zu besuchen. Das hatten sie nach dem Umzug im Dezember nämlich gehofft. Seit einem Monat ist die Telefonverbindung nach Grosny unterbrochen. Belant hat vier Brüder in Grosny, ihr Großvater lebt auch noch dort. „Es geht mir sehr schlecht, wenn ich an sie denke“, sagt sie. Ihre Haare sind in den vergangenen Jahren grau geworden, sie hat dunkle Schatten unter den Augen und rote Flecken im Gesicht. Doch weinen könne sie nicht mehr den ganzen Tag, dazu gehe der Krieg schon zu lange, sagt sie. Und dann strafft sie ihre Schultern und sagt: „Ich möchte sehr schnell Deutsch lernen und dann arbeiten. Ich will, dass ich und meine Kinder endlich wieder ein normales Leben führen.“

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