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Orissa kämpft jetzt gegen Epidemien

Im ostindischen Bundesstaat Orissa steigt die Zahl der Opfer des Zyklons weiter an. Die Armee und die Hilfsorganisationen ersetzen vielfach die zusammengebrochene Verwaltung  ■   Aus Delhi Bernard Imhasly

Zwei Wochen nach der schweren Wirbelsturmkatastrophe gelangen die Hilfsteams in Orissa endlich in die am schwersten betroffenen Ortschaften im Mahanadi-Delta. Was sie dort vorfinden, lässt sich am deutlichsten an der offiziellen Opferstatistik ablesen: In kurzer Zeit schnellte die Zahl der registrierten Toten von 3.000 auf 7.000 und bis zum Wochenende auf 9.500 hinauf. Noch ist kein Ende abzusehen. Im Distrikt Jagatsinghpur wurden ganze Dörfer vom Sturm fortgerissen. Der lokale Parlamentsabgeordnete befürchtet, dass allein in diesem Bezirk – einem von zwölf verwüsteten – 20.000 Menschen sterben mussten. Hilfsorganisationen berichten, dass ein Vordringen in diese Dörfer so schwierig ist, weil die Straßen voll aufgedunsener Leichen von Menschen und Tieren sind, die auf ihrer Flucht von der Flutwelle erfasst wurden.

Die Entsorgung der Leichen hat Priorität, da sie einen potenziellen Seuchenherd darstellen. Eine erste Untersuchung der Gesundheitsbehörde in drei der nun zugänglichen Ortschaften ergab, dass von 60 Stuhlproben 32 cholerainfiziert waren. 35 Menschen sollen dort an Diarrhöe gestorben sein. Von den rund 350.000 Tierkadavern wurden erst 65.000 verbrannt oder verscharrt.

Es fehlt nicht nur an Treibstoff und Brennmaterial, sondern auch an Helfern, die die unangenehme Arbeit auf sich nehmen. In Indien ist die Verbrennung der Toten zwar ein religiöser Akt, das Umgehen mit toter Materie gilt aber als unrein und ist daher Sache der untersten Kasten. Weil sich in Orissa dafür nicht genügend Personen fanden, musste die Regierung 250 Straßenfeger aus Delhi einfliegen lassen, um sie mit 500 lokalen Straßenreinigern als Leichenverweser einzusetzen.

Obwohl sich in Bhubaneshwar inzwischen die Hilfsgüter stapeln, ist die Verteilung vor allem von Medikamenten gegen Infektionen durch verunreinigtes Wasser noch ungenügend. In den zwölf Distrikten sind bei einer Bevölkerung von 8 Millionen Menschen nur 311 Ärzte und 515 Personen medizinisches Hilfspersonal im Einsatz. Eine Grund ist der Kollaps der Verwaltung des Gliedstaats. Statt dass die Beamten ihre Macht einsetzen, sind viele geflohen. „Auf die Naturkatastrophe droht eine menschengemachte zu folgen“, kommentiert das Magazin India Today das Risiko, dass der Sturm Hunger und Epidemien auslöst. Nur die Armee sowie in- und ausländische Hilfsorganisationen haben dies bisher verhindert. Angesichts der Konfusion der Lokalverwaltung kommt es zu einer stärkeren Koordination der privaten Hilfswerke. Deren Unterstützung durch das Ausland ist umso dringender, als sie einen effizienten Mitteleinsatz sicherstellen.

Die Gefahr einer Hungersnot bleibt akut. Das Mahanadi-Delta, wo der Sturm am heftigsten wütete, war die Reisschüssel von Orissa. Die Flutwelle hat dort die bevorstehende Winterernte zerstört und wird den Gesamtertrag des Staats von 6,5 Millionen Tonnen auf 3,5 Millionen halbieren. 80 Prozent der Menschen der Region sind Bauern. Doch die Versalzung von 320.000 Hektar Boden und des Grundwassers dürfte die nächsten fünf Jahre keinen Reisanbau mehr zulassen. Die Entwurzelung der Mango-, Kokos- und Betelnussbäume nimmt ihnen die Aussicht auf ein bescheidenes Bareinkommen. Nach dem Verlust der Arbeitstiere können auch die Äcker nicht mehr gepflügt werden.

Schwere Schäden wurden auch bei wichtigen Institutionen angerichtet. In der Stadt Cuttack etwa raste der Zyklon durch das Zentrale Reisforschungsinstitut, wo kostbares pflanzliches Genmaterial lagerte, darunter mit 22.000 Reissorten die drittgrößte Sammlung ihrer Art der Welt. Viele alte Tempel scheinen dem Sturm allerdings widerstanden zu haben. Kein einziger der 800 bisher überprüften Anlagen erlitt größeren Schaden, auch nicht der berühmte Sonnentempel in Konarak aus dem 9. Jahrhundert. Für die frommen Oriyas zeigt dies die Hand Gottes – seine Kultstätten hat er verschont, seine Geschöpfe dagegen fegte er voller Zorn hinweg.

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