: Sitzungsleitung vom roten Wollsack
■ Trotz der radikalen Entmachtung der Erbadeligen bleiben dem britischen Oberhaus noch viele skurrile Traditionen erhalten
Das britische Oberhaus hat eine lange Geschichte. Es ging hervor aus dem kirchlichen Beirat der ersten christlichen angelsächsischen Könige ab dem 7. Jahrhundert. Aus dem „Rat der Weisen“ (Witanagemot) wurde im Lauf der Jahrhunderte das englische Parlament, das sich 1341 in zwei Kammern spaltete – „House of Lords“, in dem die wichtigsten Steuerzahler selber saßen, und „House of Commons“ für die Vertreter des restlichen England.
Abgeschafft wurde es bisher nur einmal – zwischen 1649 und 1657, als nach dem Englischen Bürgerkrieg eine kurzlebige Republik eingeführt wurde. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg versuchte Großbritanniens letzter liberaler Premierminister, Lloyd George, erneut, es abzuschaffen, aber die Gesetzgebung scheiterte 1911 am König. Danach verlor das House of Lords die Macht, Gesetze des Unterhauses völlig zu kippen.
Seit langem ist die Vergabe eines Oberhaussitzes das beliebteste Mittel der Ämterpatronage britischer Premierminister für Freunde und verdiente Kollegen. Das House of Lords ist somit im Laufe der Jahrhunderte immer größer geworden, denn lange Zeit waren alle Sitze außer denen der Bischöfe und Richter erblich.
Erst bei der letzten Reform 1958 wurde der sogenannte „life peer“ eingeführt – ein Sitz, der mit seinem Inhaber stirbt. Die Zahl der Oberhausmitglieder schwankt auf Grund häufiger Todesfälle und meist zeitlich verzögerter Neueintritte ständig. Zuletzt waren es 1.324 – fast ein Rekord. Es waren einmal 1.325, aber am 5. November starb der Baron Montague von Oxford – während einer Debatte.
757 Mitglieder entstammten dem Erbadel. Mit Blairs Reform verlieren 653 davon Sitz und Stimme. Von den 104 verbleibenden sind 75 von ihren bisherigen Kollegen als einfache Mitglieder gewählt, 15 als stellvertretende Oberhaussprecher. Zwei sind Inhaber von Verwaltungsposten, zwölf bekamen ein ernanntes Mandat von der Regierung. Nun hat das House of Lords also 671 Mitglieder, davon 92 Erbadlige, 553 ernannte Lords (darunter 27 Oberste Richter) und 26 anglikanische Bischöfe.
Immerhin sinkt die Anzahl von Konservativen im neuen Oberhaus von 483 auf 223, während die von Labour nur von 194 auf 179 zurückgeht. Theoretisch können die entlassenen Lords weiter im Oberhaus sitzen – auf den Stufen des Königsthrons, der am Ende der Kammer steht und streng genommen nicht zur Kammer gehört, da der Monarch nicht Teil des Parlaments ist. Traditionell haben Inhaber aller vom Monarchen gewährten Adelstitel das Recht, von dort aus den Beratungen schweigend zu folgen; das gilt unter anderem für die Inhaber irischer Adelstitel, die seit Irlands Unabhängigkeit 1922 nicht mehr im Oberhaus sitzen, und für Kinder lebender Erbadliger. Viel Platz ist auf den Stufen jedoch nicht.
Unangetastet bleibt durch die Reform das ganze archaisch anmutende Zeremoniell des Oberhauses sowie die verfassungsrechtlich bedenkliche Position des Oberhauspräsidenten. Der so genannte Lord Chancellor ist Sprecher des Oberhauses, Führer der Regierungsfraktion und britischer Justizminister in einem. Er leitet die Sitzungen vom „Wollsack“, ein als Symbol des Gemeinwohls geltendes großes rotes Kissen voller Schafwolle, das alle zehn Jahre mit Wolle aus den Commonwealth-Mitgliedstaaten aufgefüllt wird. Dominic Johnson
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