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Die Kamera hat alle im Griff

■ Öffentliche Videoüberwachung steht bevor. In England gehört sie zum Alltag. In Berlin streiten sich die Koalitionäre darum

Zwei Männer stehen in Höhe der Hausnummer 70. Der eine, mit Goldkette, prüft die Ware. Der andere, mit Glatze, schaut auf die Straße, blickt unruhig den Bürgersteig auf und ab. Irgendwie verdächtig.

Hier in der Soldiner Straße, im tiefsten Wedding, mutet Armut amerikanisch an. Umgestoßene Einkaufswägen, Hausaufgänge schmal und trist, ein klaffendes dunkles Loch in einer eingetreten Haustür. Die meisten Menschen sind Ausländer. Von den anderen wählen viele die „Republikaner“.

Die Pakete vor Hausnummer 70 werden abgeladen. Der Blick des Geschäftsmannes schweift noch einmal die Soldiner Straße hinunter. Er wirkt nervös.

„Das müssen wir uns mal genauer anschauen“, sagt der Polizist hinter dem Monitor. Der Zoom der Kamera in der Soldiner Straße fährt auf das Gesicht des Mannes. Der Computer gleicht mit der Polizeikartei ab. „Mal sehen, was der Computer ausspuckt.“

Die Kamera auf der Soldiner Straße gibt es bislang nicht. Doch das kann sich bald ändern. Bei den derzeitigen Koalitionsverhandlungen in Berlin wird diskutiert, Videokameras an öffentlichen Orten zu installieren. „Guck und greif“ könnte ohne konkreten Verdacht filmen und aufzeichnen – auch wenn die Männer in der Soldiner Straße nur Kisten mit Tomaten vom Lkw abladen.

Beim Kampf um den goldenen Sherrifstern will sich in Deutschland niemand die Führung abnehmen lassen – erst recht nicht Berlin. „Videoüberwachung ist die neuste Sau, die um die Innere Sicherheit durchs Dorf getrieben wird“, sagt der Vorsitzende der Deutschen Vereinigung für Datenschutz, Thilo Weichert. Bislang gibt es permanente Videoüberwachung im öffentlichen Raum nur in Leipzigs Flaniermeile.

Die Berliner CDU würde gerne einführen, was in England und den USA schon lange Alltag ist. In Großbritannien etwa werden ganze Kleinstädte abgefilmt, wie die sozial schwache Bestwood-Siedlung in Nottingham. Zudem wird die flächendeckende Gesichtserkennung durch Videokameras getestet. In Berlin soll „mehr Sicherheit durch Video“ vor allem an so genannten „gefährlichen Orten“ erreicht werden. An 36 Punkten der Stadt kann die Polizei seit rund zwei Jahren verdachtsunabhängige Personenkontrollen durchführen. Und künftig, so will es die CDU, sollen dort auch Videokameras installiert werden.

Die Soldiner Straße ist so ein „gefährlicher Ort“. Ein Mädchen, leicht bekleidet, erscheint im Eingang des Massagesalons, schräg gegenüber vom Club 67. Ihr Atem ist als weißer Nebel sichtbar. Nur kurz hält sie es in ihrem dünnen Satinnegligée, das den Blick auf ihre bloßen Schultern frei gibt, vor der Tür aus. Rote Samtvorhänge weisen den Eingang zum hinteren Teil des Ladengeschäftes. Dort soll es ein Solarium geben.

„Wenn Videoüberwachung zu präventiven Zwecken gerechtfertigt ist. Warum nicht“, sagt Andreas Nowak von der Gewerkschaft der Polizei. „Schaden kann's jedenfalls nicht.“ Die Sprecherin des Berlin Datenschutzbeauftragten, Claudia Schmid, kritisiert, dass es in der Bevölkerung eine Desensibilisierung gebe. Sendungen wie „Versteckte Kamera“ fänden kaum Anstoß, und auch die öffentliche psychische Prostitution in Talksendungen sei üblich. Laut Forsa-Institut sind 59 Prozent der Berliner für eine Überwachung öffentlicher Plätze. Im Ostteil der Stadt sprechen sich sogar 72 Prozent dafür aus.

Beim Herrenfriseur Kenan hat sich seit einer Stunde kein Kunde zum Frisieren niedergelassen. Zweimal sind Männer raus und rein gegangen. Ist das Haareschneiden für Kenan nur ein Nebengeschäft?

Die Aufklärung durch permanente Videoüberwachung wird auch von der Polizei nicht uneingeschränkt befürwortet. Der Berliner Polizeisprecher Hans-Eberhard Schulz, sagt, es gebe viele Für und Wider. Konkreter will er nicht werden. Der Fraktionsvorsitzende der Berliner Grünen, Wolfgang Wieland, bezweifelt, ob der Nutzen von Videoaufzeichungen in einem angemessenen Verhältnis zum Schaden für die Bürgerrechte stehe. Die Kriminalität verlagere sich nur an andere Orte. Wieland: „Das mag für Tourismusmanager interessant sein. Der Aufklärung von Verbrechen dient das nicht.“ Er plädiert für mehr Präsenz der Polizei auf den Straßen.

Statistiken aus Großbritannien verheißen 75 Prozent Kriminalitätsrückgang durch die Installation von Videokameras. Weichert nennt die Kehrseite: „Werden bestimmte Gebiete sicherer, wird es an anderen gefährlicher.“ Eine erweiterte Überwachung könne zudem dazu führen, dass die Bereitschaft abnehme, in gefährlichen Situationen einzugreifen. Die Verantwortung werde auf die Videokamera übertragen. Bestimmte Gruppen würden zudem von öffentlichen Plätzen verdrängt.

Die SPD hält die Videoüberwachung nur in beschränktem Maßefür nützlich: Potenzielle Diebe auf großen Parkplätzen könnten leichter gefaßt werden. Der Wachmann könnte im Verdachtsfall eingreifen. Eine Bedingung der SPD: Es darf nur bei konkretem Verdacht oder bei Notfallmeldung aufgezeichnet werden.

Wenn sich die CDU mit ihrer Linie durchsetzt, darf die Polizei in der Soldiner Straße filmen, wie die Anwohner Tomaten ausladen, Frauen vor der Tür stehen und Friseure auf Kunden warten. Ob das mit der Verfassung vereinbar ist, ist strittig. Weichert: „Mit dem Grundrecht auf Persönlichkeitsschutz ist das kaum zu vereinbaren.“ Außerdem würden laut Weichert kaum Straftaten, sondern vor allem Ordnungswidrigkeiten aufgezeichnet: zum Beispiel, wenn jemand gegen Hauswände uriniert. Annette Rollmann

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