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Die 120 Tage von Sadekrokan

■ Minderjährige im Glück: Konsensuelle Gewaltausübung in Kinderbüchern

Kinder- und Jugendbücher sind ja meist frei von nackigen Körpern und anderen Zumutungen fürs kindliche Gemüt. Bringt man allerdings schon in jungen Jahren Interesse für Themen auf, die den Autoren offenbar nicht als anstößig gelten (Freiheitsberaubung, neunschwänzige Katzen), ist man fein raus und kann die ereignisarme Grundschulzeit mit erlesenen Schlüpfrigkeiten aus der Kinderbibliothek bereichern.

Die „Ritter“ im Jungsinternat „Burg Schreckenstein“ halten ihre geheimen Zusammenkünfte nicht wie weiland Zögling Törleß im Nachbau eines beliebten Geschlechtsorgans ab (dreieckig, mit rotem Samt ausgekleidet und nur durch einen engen Gang zu erreichen), sondern in einer jugendfreien Folterkammer: „Wenn die Ritter einen in die Kur nahmen, der sich gegen die Gemeinschaft stellte, waren sie äußerst wortkarg. Mücke und Klaus lösten Benis Fesseln. Dampfwalze, Andi, Ottokar und Stefan schlossen seine Hand- und Fußgelenke in die Eisenmanschetten der Streckbank.“ Komfortabler sind die totalen Institutionen nur auf Kummerland: „Alle Kinder waren mit Eisenketten an die Schulbänke gefesselt, sodass sie sich zwar bewegen, aber nicht weglaufen konnten“, vor Frau Mahlzahns pfeifendem Bambusstock nämlich. „Als die Exekution vorüber war, setzte sich der Drache befriedigt schnaufend wieder hinter sein Pult.“ (Jim Knopf) Und befriedigt schnaufte auch ich angesichts der rohen Resozialisierungsmethoden, die meine niederbayerische Grundschule nicht mehr zu bieten hatte. Aber die Autoren meines Vertrauens knauserten ja nicht mit erbaulichen Leibstrafen – das Krummschließen, der Marterpfahl und die Bastonnade bei Karl May, das muntere Treiben in der christlichen Seefahrt: „Er streifte sein Hemd ab und ließ sich, auf die Zehenspitzen gereckt, mit den Handgelenken an der Gräting festbinden, sodass seine Arme nach oben gezerrt wurden und er, den Kopf an das Gitterwerk gepresst, fast frei hing. So konnte er sich unter den Peitschenhieben nicht aufbäumen. ... Klatschend fuhr die Katze auf den muskulösen bloßen Rücken hernieder und zeichnete neun hellrote Striemen, aus denen augenblicklich Blut tropfte ... Ein wildes Stöhnen begleitete die Schläge.“ (Meuterei auf der Bounty) Ließ sich festbinden! Konsensuelle Gewaltausübung weiß man vielleicht erst als Erwachsener richtig zu schätzen; damals jedenfalls erschien mir der standhafte Lebrac mindestens genauso begehrens- und beneidenswert, und der war schließlich „keiner, der so ohne weiteres stillhielt. Seine Hinterbacken waren blau von Rutenschlägen, bis er sich endlich gezwungenermaßen in sein Schicksal ergab.“ (Der Krieg der Knöpfe)

Den Fünf Freunden widerfährt derlei ja nie, so sehr es ihnen auch zu wünschen wäre; dafür kann man dort andere nützliche Dinge lernen: „,Du verdammte Kröte‘, zischte er, ,ich werde dich so verschnüren, dass du dich nicht rühren kannst, und dann kannst du hier im Dunkeln bleiben bis zum Jüngsten Tag.‘ Er holte dicken Bindfaden aus seiner Tasche, begann ihr die Hände auf den Rücken zu fesseln und band ihre Beine an Knien und Gelenken zusammen. Hilflos rollte sie über den Boden ...“ Und weit und breit keine Bibliothekarin, die mahnend den Zeigefinger erhebt und erläutert, dass Bondage und Bindfaden nicht zusammengehören.

Auch Kasperl und Seppel bleiben nicht von unfreiwilligen Exkursionen in die homoerotische Master-Servant-Beziehung verschont: „Danach musste Seppel dem Räuber die Stiefel putzen und blankwichsen. Hinterher wurde er wieder angekettet, und Hotzenplotz legte sich nieder und blies das Licht aus.“ Und selbst bei Astrid „Niemals Gewalt“ Lindgren kommen minderjährige Connaisseusen auf ihre Kosten: „Im Licht seiner Laterne erblickten wir einen großen hölzernen Käfig aus dicken Latten – wie ein Tier hielt man Orwar darin gefangen ... er keuchte vor Erregung da in seinem Käfig.“ (Die Brüder Löwenherz) Dicke Latten, ach, wer hätte sich bei solcher Lektüre nicht gern einen kleinen Penisneid wachsen lassen ...

Wahrscheinlich halten es die Kinderbuchautoren sowieso sämtlich mit Freud, der die Grausamkeit als eine „in den Kinderjahren zunächst von der erogenen Sexualtätigkeit gesonderte Strebung“ beschreibt; aus der persönlichen Erfahrung möchte ich das nicht bestätigen. Das Erwachsenendasein ist dagegen leider relativ arm an Darstellungen von so bewegender Fallhöhe; das Pläsier, einer sozialpädagogisch weichgespülten Handlung unbeaufsichtigt lasterhaften Zeitvertreib abzutrotzen, wird so schnell nicht wiederkehren. Wenn man nicht wenigstens ein bisschen mehr Taschengeld hätte als damals, es wäre nachgerade trostlos. Kathrin Passig

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